Ohne Netz
der Kopf eines nickenden Inders. Um zu bejahen, wiegen die stolzen Söhne Trivandrums und die schönen Töchter Bengalens den Kopf diffus hin und her. Für diese Zustimmungsgeste muss man den Kopf in zwei Achsen gleichzeitig bewegen können. Zuweilen sieht das aus, als hänge er nicht mehr mit der Wirbelsäule zusammen und baumele jetzt so hilflos umher wie ein Maskottchen am Rückspiegel eines Offroad-Fahrers. Unser westliches Nicken ist dagegen eindeutig und hart wie der rote Haken des Lehrers neben der korrekt gelösten Mathematikaufgabe. Ich wünsche mir manchmal mehr solch eindeutiges Nicken in meinem Text. Hat hier vielleicht irgendjemand die Bedeutungsspritze meiner Tochter gesehen?
22. FEBRUAR
Ich frage mich, ob ich weniger vergesse als früher. In den letzten Wochen habe ich keine Verabredung und keinen Termin verpasst. Früher habe ich Leute so notorisch versetzt, dass ich mich irgendwann still und leise über ihre Treue wunderte. Kann es sein, dass ich jetzt wieder Informationen in menschlichem Maß zu verarbeiten habe? Dass ich meinen Schädel nicht mehr ganz so vollstopfe wie sonst?
Während meines Zivildienstes kam oft die Mutter von Eva vorbei, der Behinderten, die ich damals betreut habe. Die alte Frau, eine ehemalige Opernsängerin, schleppte jedes Mal hunderterlei Dinge an, sie war sehr einsam und hatte einen monströsen Einkaufstick, der vielleicht auch damit zu tun hatte, dass sie der festen Überzeugung war, wir Zivis würden ihre Tochter gezielt verhungern lassen. Wenn sie zu Besuch kam, stellte sie einen Scheck aus über 2000 Francs, schnappte sich dann einen von uns und ging für dieses Geld im Geant Casino, einer Art Riesenaldi, in dem die Verkäufer mit Rollerskates unterwegs waren, einkaufen. Nach ihren konsumistischen Feldzügen war die Badewanne randvoll mit Putenschenkeln, Gemüse und riesigen Käsestücken. Einmal kamen wir zurück mit drei Kühlboxen, die sie im Schuppen verstauen wollte. Der Schuppen aber war zum Brechen voll, mit den Kühlboxen und all dem anderen Krempel, der sich bei ihren letzten Einkaufsattacken angesammelt hatte. Es passte beim besten Willen nichts mehr rein. Es war, als wollten sich die Dinge endlich an ihr rächen. Ich genoss damals den Anblick dieser verbitterten alten Frau, die sich vergeblich mühte, die Boxen in das von ihr selbst angehäufte Chaos zu quetschen. Am Ende blieben die Kühlboxen draußen stehen, und wir widmeten sie nach ein paar Tagen um zu Blumenrabbatten.
Infos passen immer mehr rein. Denken wir. Dass sie hinten, im Dunkel unseres Gedächtnisschuppens, einfach stumm verlöschen, merken wir nicht, schließlich sind wir so frenetisch am Einräumen und Weiterreinstopfen.
25. FEBRUAR
Die drei langen Texte über die Situation der klammen Kommunen habe ich ziemlich schnell hintereinander weggeschrieben, innerhalb von sechs Tagen. Natürlich fehlte mir das Netz geradezu schmerzhaft, wenn es darum ging, Zahlen zu prüfen, Geschichtliches, Straßennamen, und wie hieß noch mal dieses riesige Einkaufszentrum in der Mitte von Oberhausen. Es pulste dann wieder richtiggehend in mir: Ich will da rein. Viel wichtiger ist aber etwas Positives: Ich habe konzentriert und stetig an diesen Texten gearbeitet. Es war, wie wenn man beim Rudern konstant kräftig durchzieht, und am Abend war da jeweils ein Gefühl ruhiger Zufriedenheit. Da ich das Internet nicht zur Verfügung hatte, habe ich all meine Fragen gesammelt und am Ende drei Telefonate mit einem Stadtkämmerer, einem Archivar und einem Intendanten geführt. In normalen Zeiten wäre ich sicher 30-mal ins Netz gegangen, für jede Zahl einzeln.
27. FEBRUAR
Der »Guardian« hat eine schöne Umfrage gemacht: Inspiriert von Elmore Leonards »10 Rules of Writing« haben sie englischsprachige Schriftsteller jeweils nach ihren wichtigsten Tipps oder Regeln zum Schreiben gefragt. Roddy Doyle schreibt in seinen zehn Geboten: »Beschränke dein tägliches Surfen auf ein paar Websites. Komm bloß nicht in die Nähe deiner Favoriten – es sei denn, du brauchst das wirklich zu Recherchezwecken.« Zadie Smiths Regel Nummer sieben: »Arbeite an einem Computer ohne Internetzugang!« Und Jonathan Franzen schreibt: »Ich bezweifle, dass jemand mit Internetanschluss an seinem Arbeitsplatz gute Literatur schreiben kann.«
Es gibt unter all diesen Regeln seltsames und eitles Zeug, aber auch sehr schöne, kluge Dinge. Jonathan Franzens Regel Nummer zwei lautet: »Fiktion, die für den Autor nicht eine Reise in seine
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