Ohne Netz
ganz persönliche Angst oder ins Unbekannte bedeutet, lohnt sich höchstens aus finanziellen Gründen.«
Also gut, hier kommt mein Reisebericht, zwar nicht in meine ganz persönliche Angst, aber dafür in meine ganz persönliche Peinlichkeit: Nur 16 Tage vergangen, und ich muss schon wieder in den Beichtstuhl. Und diesmal schäme ich mich richtig. B.’s Computer ist kaputtgegangen, sie hat sich einen neuen bestellt, hat aber, während ich in der Arbeit war, kurzerhand bei mir wieder Firefox installiert. »Ist nur für eine Woche, dann kommt mein Rechner«, sagte sie beim Abendessen nebenbei, »du schaust doch eh nicht rein. Ich muss unbedingt ein paar Sachen online erledigen.« Ich war übertölpelt und habe nichts gesagt. Beziehungsweise: »Kein Problem, passt schon.« Was aber tat ich vorhin, als sie weg war, wie ein Pawlowscher Hund? Ich wollte nicht. Ich wollte es nicht. Ich habe es nicht gewollt. Nein. Ehrenwort. Ich habe ja auch zunächst fieberhaft an einem Text gearbeitet, den ich noch fertigkriegen muss vor dem Wochenende, das ist doch der eindeutige Beweis dafür, dass ich den Rechner aus ganz anderen Gründen angemacht habe. Links neben dem Dokument war der orangefarbene Fuchs zu sehen, der mich nicht interessierte. Der mich nicht zu interessieren hatte. Den ich nicht sehen wollte, auch wenn er mir fortwährend ins Blickfeld leuchtete. Über den ich das Worddokument gezogen habe, weil ich das nicht will, außerdem musst du den Text dringend fertigschreiben. Komm, du hast es dir vorgenommen, ein halbes Jahr, du hast schon mehr als die Häl ... Schon war ich drin. Und hab mich benommen wie ein Fresssüchtiger, den man nach drei Monaten Haferschleimdiät unbeaufsichtigt in die Speisekammer von Paul Bocuse lässt. Ich hab mich hemmungslos überfressen, eine Stunde gesurft wie unter Zwang, Spiegel Online und Niggemeiers Blog, Youtube und Reporterforum (großartig!), Arts and Letters daily, mich geärgert, weil sueddeutsche.de in der ganzen Zeit keinen einzigen Feuilleton-Text von mir übernommen hat, weiter meine Favoriten abgeritten. Alles natürlich ohne Freude, wie ein rückfälliger Raucher, der missgelaunt draußen vorm Büroturm steht und im Regen vor sich hin pafft, ich hab immer wieder gesagt, jetzt hör halt auf, aber da war’s schon Mitternacht und ja irgendwie eh schon wurscht, warum dann nicht noch ganz kurz auf Youporn schauen, nur mal schauen ...
Scheiße.
Beim ersten Rückfall waren höhere Mächte im Spiel. Ein Co-Moderator, der am Nachmittag krank wird, das ist eine Eins-a-Ausrede. Diesmal komme ich mir wie ein Verlierer vor, ein Verlierer und Hanswurst. Als hätte ich das ganze Experiment versaut. Übrigens genau an dem Tag, an dem Margot Käßmanns blaue Fahrt durch Hannover in den Medien groß diskutiert wird. Bei Rot über die Ampel, mit 1,54 Promille im Blut. Im »Bild«-Interview sagte sie: »Ich bin über mich selbst erschrocken, dass ich einen so schlimmen Fehler gemacht habe.«Ich auch. Viele fordern Käßmanns Rücktritt. Muss ich jetzt auch zurücktreten? Muss ich abbrechen? Und muss ich Sergey Brin und Larry Page jetzt Geld überweisen? Ich denk ja nicht dran. Ich habe gesagt, wenn ich so etwas heimlich mache. Bin zwar Protestant, finde aber, es gilt hier wie in der katholischen Kirche: Gebeichtet ist vergeben.
Ich will mich ja hier nicht brüsten, aber ich habe es entgegen aller Unkenrufe 89 Tage lang irgendwie geschafft, ohne Internet meine Arbeit zu machen und mein Leben analog zu organisieren. Okay, ich habe vor ein paar Wochen kurz Zaimoglu gegoogelt, aber da brannte die Hütte lichterloh. Das gestern war was anderes. Das nervt mich. Das ärgert mich. Das macht mich dermaßen wütend, dass ich zu Axel gehe und ihn bitte, er solle das Internet ganz und gar sperren und runterschmeißen oder was man da machen muss, damit es niemals jemand reinstallieren kann. Was er getan hat.
MÄRZ
Der Proband liest sehr viel mehr als früher, leider verflüchtigt sich aber das kurzzeitig erhebende Gefühl, dass er seine Vergesslichkeit dem Netz anlasten könne, wieder. Er besucht den Beschleunigungsexperten Hartmut Rosa, der die ganze Internetproblematik endlich an den richtigen Platz rückt, muss auf einem eintägigen Zen-Sesshin krampfhaft schlucken und ist erleichtert darüber, dass die ersten 100 Tage Einsamkeit gar nicht einsam waren.
1. MÄRZ
Ich fange fürs Erste wieder um fünf Uhr morgens an mit dem Tagebuchschreiben. Dasselbe allmorgendliche Vorbereitungsritual wie im
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