Ohne Netz
Dezember: Das leise Anziehen im Flur, nur die Gürtelschnalle klimpert manchmal wie das Halsband eines freudig erregten Hundes; in der lichtlosen Küche Teewasser kochen und währenddessen mit spinnenbeinernen Fingerspitzen den steilen Geschirrberg im Abtropfgestell überkrabbeln, auf der Suche nach der weißen Tasse mit dem angeschlagenen Rand; dann vorsichtig, mit Pinzettenhand, Grünteekrümel aus der Porzellandose holen und in das Filtersäckchen streuen; im Arbeitszimmer die knarrenden Dielen, deren Knarzen mir tagsüber nie aufgefallen ist; der blau aufscheinende Bildschirm, wie eine lautlose Lichtexplosion; die Wolldecke um die Hüfte, die Füße an der Heizung, und langsam strahlt die Wärme durch die Socken: All das ist gleich, und das ist so beruhigend, als würde man in einer unbekannten Landschaft bei dichtem Schneetreiben in eine gut gespurte Langlaufloipe zurückfinden.
Und doch fühlt es sich gleichzeitig ganz und gar anders an als in den tiefen Wintermonaten: Die Vögel singen jetzt in der Früh. Was heißt hier die Vögel, es ist eine einzelne Amsel, die mit solcher Inbrunst in die dunkle Stille unseres monotonen Hinterhofs hinunterschmettert, als wolle sie damit die letzten Schneereste neben den blauen Altpapiertonnen wegschmelzen. Ihr Gesang in der Dämmerung ist so tröstend, das sollte es auf Krankenschein geben. Henry David Thoreau schrieb mal in der Einsamkeit seiner Hütte am Walden Pond: »In Neuengland sind wir gewohnt zu sagen, dass uns Jahr für Jahr weniger Tauben besuchen. In unseren Wäldern finden sie kein Futter. Und gleichermaßen, so scheint es, besuchen jeden Mann, wenn er älter wird, Jahr für Jahr weniger Gedanken, denn der Hain unseres Geistes ist verwüstet: abgeholzt, um zersägt zu werden oder um unnötigen Ehrgeiz zu befeuern, so dass kaum ein Zweig mehr übrig ist, auf den sie sich setzen könnten.« Oh du wunderbare Spätwinteramsel, setz dich, nimm Platz auf dem hässlichen Schornstein da drüben und sing mir was in den verwüsteten Hinterhof meiner Gedanken!
5. MÄRZ
Ich traue mich nicht, um zehn Uhr abends meinen Ressortchef Andrian Kreye zu Hause anzurufen. In dem Moment fehlt mir die wunderbare Diskretion der Mail. In die könnte er reinschauen, müsste er aber nicht. Seinen Chef so spät am Freitagabend anzurufen, das kommt mir vor, als würde ich nach Schnaps riechend und mit Lehm an den Stiefeln in seinem Wohnzimmer aufkreuzen. Die Mail ist lautlos und schmutzt nicht, und ich wäre mir ziemlich sicher, dass er reinschaut, der hat nämlich auch ordentlich einen an der Waffel in Sachen Blackberry. So sitze ich daheim, überlege, ihm stattdessen eine Postkarte zu schicken, aber da muss ja dann gleich wieder das Motiv stimmen, am besten witzig sein, ohne ins Alberne zu kippen. Außerdem krieg ich dann frühestens in drei Tagen Antwort.
10. MÄRZ
100 Tage Einsamkeit. – Klingt griffig, stimmt aber nicht. Ich hatte mir das Datum vor Beginn meines Experiments ausgerechnet, im November, als ich das Unternehmen plante und panische Lebensuntauglichkeits- und Vereinsamungsängste hatte. Ohne das Gefühl zu haben, durch das Experiment viel gelernt zu haben, kann ich zumindest sagen: Diese Angst war unbegründet. Ich fühle mich nicht einsamer als sonst. Im Gegenteil. Das alltägliche, vertraute Nebeneinander mit Axel, der gerade aus Namibia zurückkehrt und einen prallgefüllten Sack Geschichten mitgebracht hat; die nachmittäglichen Treffen mit den Freunden, die ich sonst, während des Arbeitsalltags, kaum je sehe. Die wiederum sagen derart oft, ich würde so ruhig und ausgeglichen wirken, dass ich mich frage, was sie in mich hineinprojizieren, ruhig und ausgeglichen fühle ich mich nämlich wahrlich nicht. B. sagt, klar geht’s uns besser, jetzt, wo du zu Hause bist. Liegt’s an den freien Monaten oder am Internetfasten? Sie meint, die Monate in der Zeitung wären wie sonst auch, ich sei unter Druck, ziemlich abwesend, müde und zerknittert.
Und ich selbst? Was sage ich während des zweiten Monats Heimaturlaub? Ich lese mittlerweile eindeutig mehr als zu Online-zeiten. Ich hab immer viel gelesen. Jetzt aber sind herrliche Lesemonate angebrochen. Ich sollte im Abspann statt eines Soundtracks einen Lesetrack anführen: Rosas großartiges Zeitgemälde über die »Beschleunigung«, die radikale Ehrlichkeit von Max Frischs »Montauk«. »Abschaffel« von Genazino. Nicholson Bakers hohe Kunst, aus nichts als dem nächtlichen Rumhocken vor einem brennenden Kamin einen
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