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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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Krücken an, die einem helfen, im Rennen zu bleiben, im Rennen, das keine Zielgerade kennt: »Früher ging es darum, eine Position zu erringen, sei es die des Redakteurs, des Arztes oder des Professors. Wenn man die erreicht hatte, war man auf einer Art Hochplateau angekommen und gesichert. Das hat sich umgestellt auf permanente Performanz: Man wird fortlaufend evaluiert, gemessen am Output der Texte, an der Zahl der Lehrveranstaltungen und Aufsätze. Und das gilt nicht mehr nur für die Führungskräfte und Eliten, das finden Sie bis hin zu unteren Diensten, Polizisten müssen ihre Einsätze im Minutentakt abrechnen, das setzt die enorm unter zusätzlichen Stress. Krankenschwester, Fernfahrer, Bauarbeiter – alle werden nach Leistung per Zeit beurteilt.« Während Rosa redet, fällt mir ein, wie ich oft heimlich in unserem digitalen Archiv geschaut habe, wie viele Texte ich in letzter Zeit geschrieben habe. Wenn ich das dann verglich mit dem Output anderer Kollegen, stieg oft helle Panik in mir auf.
    Rosa schaut aus dem Fenster seines kleinen Büros auf die Altstadt von Jena und sagt verwundert: »Wir sind so frei wie niemand vor uns. Und gleichzeitig total gegängelt durch den permanenten Effizienzdruck. Wir geben keine Benimmregeln mehr vor, aber wehe irgendetwas dauert zu lang. Mach, was du willst – aber mach’s schnell!«
    Rosa müsste heute eigentlich noch etwas vorbereiten, am nächsten Tag sollen die Professoren über Möglichkeiten einer Universitätsreform diskutieren. »Aber keiner von uns, weder die Studenten noch die Verwaltung noch wir Professoren, wirklich keiner hat einen Plan, was wir da eigentlich beschließen sollen. Man müsste ja mittlerweile ein Buch schreiben mit dem Titel ˃Die große Ratlosigkeit˂.« Rosa lacht in die Stille seines Büros, es klingt in dem kleinen Raum, als lege sich sofort Staub auf das Gelächter. Ich frage, ob das früher nicht genauso war, siehe Schivelbusch und die Eisenbahndebatte im 19. Jahrhundert, ob wir nicht vielleicht einfach nur einen weiteren Geschwindigkeitsschub erleben, auf den die Jüngeren souveräner reagieren als wir Älteren, um die sich der digitale Kokon erst spät gelegt hat. »Klar geht’s immer noch schneller. Aber es geht ja mittlerweile auf allen Ebenen gleichzeitig schneller. Früher gab es stabile Verhältnisse, innerhalb derer Einzelnes beschleunigt wurde. Heute ist doch alles ins Rutschen gekommen. Wenn Sie alles beschleunigen, läuft das auf organisatorisches Kammerflimmern hinaus. Wie sonst hätte die Finanzkrise in dieser Massivität über uns kommen können?«
    Rosas Buch endet mit einem vernichtenden Fazit: Rechtsstaat, Demokratie, autonomes Subjekt – die großen Errungenschaften der europäischen Aufklärung, die alle einen sehr langsamen, zähen Puls haben, werden in der allesverschlingenden Beschleunigungsturbine zerrieben, wir steuern auf die Selbstauslöschung zu, das Projekt der Moderne frisst sich am Ende restlos selbst auf. Als ich ihn frage, ob er mittlerweile irgendetwas ändern würde an diesem apokalyptischen Resümme, sagt er: »Ja. Ich glaube, dass es ein großer Wettbewerbsvorteil sein kann, langsam zu sein. Die Sparkassen, die vor der Finanzkrise als hoffnungslos abgehängtes Modell galten, haben überlebt. Aber sonst - es ist schwer Optimist zu sein.«
    Später, auf dem Rückweg zum Bahnhof Jena Paradies, nadelt der Nieselregen einen seiner undechiffrierbaren Monologe auf den Schirm, und mir fällt dabei das schöne Poster ein, das an Hartmut Rosas Bürotür hing, das Schwarzweiß-foto einer Frau, die mit einem Sonnenschirm in der Hand entspannt durchs Bild flaniert. Darüber standen die Sätze Rahel Varnhagens: »Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.«
    21. MÄRZ
    Zwei Tage nach meinem Besuch in Jena fällt mir ein beeindruckender Beleg für Hartmut Rosas Behauptung von der Ersetzung der Benimmcodes durch den Schnelligkeitsdruck auf: Vor unserem Schuhschrank sehe ich morgens im Spiegel einen nervösen Mann, der mit fast schon knirschender Stirnfalte einem kleinen Mädchen dabei zusieht, wie es sich singend die Schuhe anzieht. Irgendwann blaffe ich S. an – jetzt nimm halt deine Handschuhe, leg die Haarspange endlich weg, und hast du deine Mütze, wir müssen längst weg sein –, und denke, das kann doch wohl nicht wahr sein, da mache ich eine Art lebensreformerisches Projekt und schnauze trotzdem noch die Kinder an, sich zu beeilen.
    Wir schreiben den Kindern selten vor, wie sie sich zu

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