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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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ganzen Roman zu zaubern. John Updike, Leute, lest mehr Updike, da stimmt einfach jeder Satz! Der Sammelband vom Berliner »Revolver«-Kollektiv, wegen der wohltuenden offe-nen Neugier in ihren Interviews und weil sie so starke Meinungen haben, ohne dabei je doktrinär zu wirken. Ich schicke solidarische Grüße nach Berlin! Hoch lebe das Kollektiv!
    Und seit drei Tagen lese ich wieder »Hundert Jahre Einsamkeit«, wegen des Einstiegs in den heutigen Eintrag. Ich wollte eigentlich nur bisschen rumblättern, ob ich was finde zu meinem Kalauer »100 Tage Einsamkeit«, aber ich wurde sofort in die Geschichte gesaugt. Ich hatte wie üblich so gut wie alles vergessen, was ja immerhin den Vorteil hat, dass man genau so überrascht ist wie beim ersten Lesen. Als ich das Buch aufschlug, fiel eine Überblicksskizze hinten raus, die B. seinerzeit angelegt hat, ein Stammbaum als Lesehilfe, das komplizierte Verwandtschaftsgeflecht, sieben Generationen, urwaldlianenartig verwoben durch einen blauen Buntstift. Der Zettel muss seit 17 Jahren da hinten drin liegen, seit wir das Buch zusammen gelesen haben, als Studenten. Ich stand im Flur, hielt dieses karierte Blatt Recyclingpapier in der Hand, während B. im Wohnzimmer saß und leise murmelnd ihre morgigen Yogakurse vorbereitete, und dachte, na sowas, 18 Jahre Zweisamkeit.
    Ziemlich zu Beginn des Romans bringt ein junges Mädchen namens Rebeca die Schlaflosigkeitskrankheit nach Macondo und steckt alle Dorfbewohner damit an. Der Patriarch José Arcadio Buendía ist begeistert: »Wenn wir nicht mehr schlafen, umso besser, auf diese Weise wird uns das Leben mehr geben.« Die Indios im Dorf aber sind entsetzt, sie kennen die Krankheit und wissen, dass das eigentlich Schlimme daran nicht die Schlaflosigkeit selber ist, sondern die Tatsache, dass sie totales Vergessen mit sich bringt: »Sobald der Kranke sich an den Zustand des Wachens gewöhnt habe, begännen seine Kindheitserinnerungen zu verblassen, bald darauf vergesse er seinen Namen und die Bezeichnungen der Dinge, zu guter Letzt den Namen der Menschen und sogar das Bewusstsein des eigenen Ichs, bis er einer Art von vergangenheitslosem Stumpfsinn verfalle.« Genauso kommt es, das Dorf versinkt »unrettbar im Zitterboden des Vergessens«.
    Als ich den Satz las, fiel mir wieder ein, dass sich mit meinem kleinen Experiment ja auch die geheime Hoffnung verband, dass mein Gedächtnis durch das digitale Fasten genesen möge. Leider habe ich nicht wirklich das Gefühl, dass es sich erholt hat, was ich Ende Februar schrieb, war wohl doch eher Wunschdenken. Heute Morgen, auf dem Schulweg, habe ich mit unserer Nachbarin vereinbart, dass wir ihren Sohn morgen mit zur Schule nehmen. Am Nachmittag habe ich dann B. aus der Arbeit angerufen, um ihr das zu sagen. »Ja wie, und jetzt soll ich mir das für dich merken?«, fragte sie. »Nein, nein«, sagte ich eilig, »ich wollte das nicht abwälzen, sondern nur auf möglichst viele Gedächtnisschultern verteilen.« Natürlich wollte ich’s abwälzen, ich delegiere mein alltagsfunktionales Gedächtnis seit Jahren an meine Umwelt, was ein Euphemismus ist für: an meine Frau. Mittlerweile schreibe ich mir die wichtigsten Dinge wieder mit Kuli auf die Hand, damit ich abends daran denke.
    11. MÄRZ
    Nach einem langen Telefonat mit Friedmann still mit einem Augustiner-Bier in der Küche sitzen, es läuft Gustavs CD »Verlass die Stadt«, und den beiden Zwergkaninchen der Kinder dabei zusehen, wie sie mal wieder riesige Löcher in die Tapete nagen, das nenn ich Leben. Nee, Moment, das mit den Hasen nenn ich nervig. Aber der Rest kann haargenau so bleiben. Selbst die zwei ungewaschenen Töpfe neben der Spüle stören nicht im Geringsten.
    17. MÄRZ
    Ein etwa neunjähriger Junge mit Schulranzen auf dem Rücken hastet gegen halb eins an der Kapuzinerstraße an mir vorbei. Er hat nur den einen Ärmel seiner Jacke an, der andere schleift ihm hinterher wie eine signalgelbe Hundeleine. Der Junge telefoniert, ich höre: »Ja, ich komm jetzt. Wir hatten noch Fußball im Hof. Ja. Hab ich. Ja.«
    Ich habe mal vor einigen Jahren für die Zeitung einen Text über die immer merkwürdigeren Auswüchse der Kindersicherheitsindustrie geschrieben: Jacken, in deren Krägen Peilsender eingenäht sind, Schuhe mit GPS in der Sohle, Telefone, die wie elektronische Fußfesseln funktionieren: Man gibt einen bestimmten Radius ein, entfernt sich das Kind weiter von der Wohnung, sendet das Handy eine SMS an die Eltern. Sehr schön

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