Ohne Netz
benehmen haben, wir sagen kaum je, dieses oder jenes dürfe man nicht, aber wir hämmern ihnen sicher fünfmal am Tag ein, dass sie nicht so trödeln sollen. Das Erziehungsmantra »Benimm dich!« ist der permanenten Aufforderung »Beeil dich!« gewichen. Wenn sie vor sich hinspielen, wirkt das manchmal, als säßen sie in der Zeit wie in einer kleinen Pfütze, aus deren Grund immer neu und still das Jetzt sprudelt. Nichts stört, nur ab und zu rufen diese Erwachsenen, die knietief im reißenden Strom der gestundeten Zeit stehen, mach endlich, wir kommen zu spät!
Unsere Erziehung trägt anscheinend Früchte, um unseren Sohn herum trocknet die kleine Pfütze Ewigkeit mittlerweile aus. Ich bringe ihn jeden Morgen zur Schule. Es ist derselbe Weg, den wir früher zum Kindergarten genommen haben. Damals eierte er gemütlich auf seinem Laufrad den Weg entlang und philosophierte über den lieben Gott am Fallschirm und den ganzen Rest. Einmal sagte ich: »Du bist ja schnell wie der Blitz«, worauf er mit gravitätisch ruhigem Selbstbewusstsein antwortete: »Nein. Ich bin langsam wie der Donner.« Heute ist er auf der Strecke immer ganz still, sagt kaum was, aber stellt Morgen für Morgen besorgt dieselbe Frage: »Wie viel Minuten hamm wir noch?«
22. MÄRZ
Ich sitze im ICE nach Hannover. Der Mann neben mir arbeitet am Laptop. Das tue ich auch, der Mann aber hat während der viereinhalbstündigen Fahrt seine zwei Mailboxen offen, sein digitales Fotoalbum, iTunes, mehrere Dokumente, das Netz natürlich sowieso und telefoniert fortlaufend. Ich weiß jetzt so ziemlich alles über ihn. Nicht weil ich das wollte, sondern obwohl ich das überhaupt nicht wollte. Keine Ahnung, ob der Mann Schriftführer im Verein für digitale Indiskretion ist oder ob er einen Augenschaden hat, jedenfalls besitzt er einen cinemascopisch großen Bildschirm, und alles Mögliche ploppt fortwährend in Riesenschriften hoch. Ich weiß, dass er Filme über Windsurfen liebt und gern Snowboardfahren geht, dass er 15 Jahre lang in einem viersilbigen, sehr fremden Land und dort in der Stadt X gelebt hat, weil seine Eltern mit ihm und seinen Geschwistern im Jahr Y dort hingegangen sind, ich weiß, wie seine Eltern und sein Onkel väterlicherseits heißen, was er und sein Vater beruflich machen, mit wem er alles via Facebook kommuniziert und bei welcher Firma er heute vormittag ein Vorstellungsgespräch hatte. Ich könnte sogar genau erzählen, warum er die Stelle nicht annehmen wird und wie viel er momentan verdient. Sollen wir jetzt beruflich weitermachen oder mit seinem Familienhintergrund? Aber gerne doch, immer reinspaziert in die intime Lebenswelt dieses mir vollkommen unbekannten Mannes: Er hat einen einjährigen Sohn, ich weiß, wie seine Frau beim Stillen im Garten aussieht, was sein Bruder und dessen Frau in den Sommerferien machen, wie seine Studenten heißen (er korrigierte nebenher deren Arbeiten, die digital auf seinem Rechner einliefen, Matthew S. wird gar nicht zufrieden sein mit seiner Note), und noch vieles mehr. Ja, ich weiß so viel mehr, dass mich der Mann sofort verklagen könnte, wenn ich hier alles offenlegen würde. Wie gesagt, ich bin nicht in den Zug gestiegen, um endlich mal zu erfahren, warum ein mir bislang gänzlich unbekannter Mann mit unangenehmem Musikgeschmack einen Job annimmt oder nicht. Im Gegenteil, ich habe schon vor Nürnberg als Abwehrzauber gegen das permanente Metal-Rhythmus-Gezischel aus seinen Kopfhörern und gegen seine Telefongespräche selber Kopfhörer aufgesetzt und Bach gehört und irgendwann Peter Lichts »Marketing« und Peter Fox’ »Stadtaffe«, weil das besser zu meinem Zorn passte. Und ich habe ganze Landstriche lang zum Fenster rausgeschaut, einfach um das nicht alles mitzubekommen, und dachte dabei an das tolle »Google-Porträt«, das die französische Zeitschrift Le Tigre im März 2009 gemacht hat: Sie haben von einem x-beliebigen Menschen, der sich auf diversen Internetseiten präsentierte, einfach alle Informationen zusammengetragen, die der Mann von sich preisgegeben hatte. Der Text fing an, als schreibe Big Brother einen Brief: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jules. Wir dürfen doch du sagen, Jules, oder? Du kennst uns zwar nicht. Aber wir wissen extrem viel über dich.« Es folgte ein nahezu lückenloses Porträt des Mannes, der derart geschockt war, dass er die Zeitschrift zunächst verklagen wollte, aber dann selbst einsah, wie absurd das gewesen wäre: All die Fakten – seine
Weitere Kostenlose Bücher