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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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Adresse, seine Handynummer, seine Arbeit in einem Architekturbüro in Nantes, seine Hobbys, die Reisen der letzten Jahre, seine aktuelle Freundin und seine Verflossenen nebst zärtlichen Fotos – hatte er schließlich selber ins Netz gestellt.
    23. MÄRZ
    Einatmen. Ausatmen. Still sein. Es riecht leicht nach Weihrauch, so wie damals. Man hört draußen den Regen auf den Kies tropfen, so wie damals. Ich sitze auf einem schwarzen Kissen und schaue auf die Raufasertapete, in der ich schon damals nach wenigen Minuten des Sitzens immer Figuren zu erkennen glaubte, ein Reh, ein Auge, eine springende Frau. Gundula sitzt am Ende des Raumes, so wie damals, nur dass die Zeit während der letzten 15 Jahre in ihrem Gesicht an einer nieselfeinen Zitterzeichnung gearbeitet hat. Und meine Knie schmerzen, noch mehr als damals. Einatmen. Ausatmen. Mann, hab ich Hunger.
    Das letzte Mal, dass ich 25 Minuten am Stück ruhig gehalten habe, war im Computertomographen. Ein Orthopäde machte zu Beginn des Winters ein Bild von meinem Knie und stellte fest, dass mein Innenmeniskus total zerfetzt ist. Heute stelle ich während der ersten 25 Minuten Sitzen einmal mehr fest, dass mein Aufmerksamkeitsvermögen total zerfetzt ist. Es gelingt mir auch nicht ansatzweise, meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem zu lenken.
    Einatmen. Ausatmen. Was mache ich hier eigentlich? Ich bin hergekommen, weil ich seit dem Februareintrag über das Zendo wieder oft an den stillen Winter hier gedacht habe. An das Sitzen. An Gundula. Und weil ich mich frage, ob ich jetzt, wo ich offline lebe, vielleicht zentrierter bin als sonst. Gundula erinnert sich bei einem kurzen Spaziergang durch den Garten, in dem ich seinerzeit täglich rumgewerkelt habe, an meinen mehrwöchigen Aufenthalt, »aber ehrlich gesagt dachte ich damals, dass du nicht so sehr wegen des Sitzens hier warst, sondern weil du nicht so recht wusstest, wohin mit dir im Leben. Warst zu jung. Jetzt ist das Alter für so etwas. Mit 40 fängt der Mensch an, wirklich zu suchen.«
    Einatmen. Ausatmen. Geplapper. Man soll beim Sitzen alle Gedanken einfach vorbeiziehen lassen wie Wolken. Vielleicht zogen ja den mittelalterlichen Japanern, die den Buddhismus zum Zen verfeinert haben, ihre Gedanken schwerelos, rein und fern wie weiße Wolken durchs Gemüt. Meine Gedanken gleichen beim Sitzen eher diesen bräunlichklebrigen Fliegenfallenbändern, die über bayerischen Wirtshaustischen hängen, sie können noch so banal und doof sein, ich häng sofort daran fest und zapple dann mindestens so nervös herum wie ein angepapptes Insekt: Wie hieß noch mal der hagere Mann, der ganz vorne am Eingang sitzt, der war doch damals schon da, nur mit mehr Haaren. Einat ...– Warum hat der eigentlich so komisch gekuckt heute morgen? Einatmen! Und nicht schon wieder schlucken, das hören doch alle. Nicht! Ausatmen. Jetzt achte doch endlich mal aufs Ausatmen. Nicht schon wieder schlucken. Bitte nicht!
    Mein Körper rebelliert gegen die Stille auf geradezu neurotische Art und Weise. Mit Rotz und Wasser, im wahrsten Sinne des Wortes: Ich muss von der ersten Minute auf dem Kissen an panisch schlucken. Als würden in meinem Rachenraum mir bislang unbekannte Speichelschleusen geöffnet, riesige Spuckemengen scheinen unaufhaltsam meinen Gaumen hinunter rinnen zu wollen. Ich wusste nicht, wie monströs laut Schlucken klingen kann, wenn um einen herum 30 Leute unbeweglich schweigend dasitzen. Und es fühlt sich an, als sei der ganze Hals ein riesig glitschiger Molluskenmuskel, der sich krampfhaft zuzieht. Na großartig, da fahre ich 650 Kilometer Zug, um mich selbst beim Schlucken zu beobachten. Ein paar Minuten später fängt auch noch mein Magen an zu kollern: Ich wusste nicht, dass man sich auf solchen Ein-Tages-Retreats selbst versorgt, schließlich wurde man auf den mehrtägigen Sesshins, die ich früher besucht habe, gut bekocht. Ich hatte noch eine Banane und eine halbe Tüte Chips aus dem Zug übrig, an denen ich morgens, vor dem Sitzen, sparsam rumgemümmelt habe. Ein Mann fragte, ob ich was von seinen Broten und Äpfeln abhaben wolle. Wollte ich. Er teilte großzügig und sagte dann: »Musst mal auf die Homepage, da steht das drauf: Bettwäsche, Hausschuhe und Essen mitbringen.« »Ah«, sagte ich, »klar, hätte ich tun sollen.« Hausschuhe und Bettwäsche hatte ich auch keine dabei. Am Telefon hatte keiner was davon gesagt, schließlich geht man mittlerweile auch in abgelegenen Zendos davon aus, dass Interessenten auf die

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