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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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auch die Uhr, die sofort einen Alarm ausschickt, wenn sich das Kind weiter als fünfzig Meter vom festgelegten Schulweg entfernt. Ich habe diesen Text seinerzeit eindeutig im Ton der Verwunderung geschrieben. Woher kommt dieses Bedürfnis der Rundumüberwachung? Haben all diese Eltern vergessen, wie wichtig es für sie selber als Kinder war, ab und zu etwas Geheimes zu tun? An Orten zu sein, von denen die Eltern gar nicht wissen? Was aber geschah nach dem Text? Ich wurde überrollt von Anrufen, Eltern, Großeltern, Patentanten, alle wollten wissen, wo es diese fantastischen Uhren und Peilsenderjacken gibt.
    19. MÄRZ
    Auf dem Weg nach Jena entschuldigt sich der Zugschaffner über Mikrofon bei allen Mitreisenden, weil wir kurz vor Saalfeld einige Minuten lang nur mit Tempo 40 durch die Gegend fahren. Zu Zeiten von Victor Hugo und Gustave Flaubert war das Spitzengeschwindigkeit, die beiden würden aufgrund all der vorbeirasenden Eindrücke wahrscheinlich schon reihernd überm Klo hängen, hier aber zücken die ersten Reisenden völlig entnervt ihre Handys und rufen hinein, der Zug stehe praktisch, eine Riesensauerei der Bahn sei das, sie kämen etwas später ... Als ich den vorbeieilenden Schaffner frage, in welchem Abteil die Telefonzelle sei, bekomme ich einmal mehr das analoge Verschwindensmantra zu hören: Längst abgeschafft, hat keiner mehr benutzt.
    Ich komme am Ende doch noch pünktlich zu meinem Gespräch, dafür ist der Soziologe Hartmut Rosa zunächst nicht da. »Ich dachte, wir seien um drei verabredet«, sagt er, als er von zu Hause angerannt kommt und sich den Mantel von der Schulter streift. »Aber nein«, sagt seine Sekretärin, »um drei kommt doch Herr Wilke.« »Herr Wilke? Warum denn Herr Wilke?« »Steht in Ihrem Kalender.« Rosa schaut konsterniert auf sein iPhone. »Ich hatte zwei Papierkalender, und in beiden standen immer unterschiedliche Dinge. Jetzt habe ich mir deshalb dieses Ding besorgt, aber seither geht erst recht alles durcheinander.« Beruhigend zu sehen, dass es dem Papst der Beschleunigungstheorie auch nicht anders ergeht als unsereinem. »Ich bin ja kein Zeittherapeut«, antwortet Rosa, »sondern ein Soziologe, der selbst akut unter Zeitmangel leidet, wahrscheinlich konnte ich das Buch überhaupt nur deshalb schreiben.« Dann, mit befremdetem Blick auf das Display seines iPhones, so als sei das ein unbekannter Kultgegenstand einer untergegangenen Zivilisation: »Herr Wilke ... Schon komisch, wie wir uns immer als souveräne Akteure dieser Geräte sehen. Der Markt verkauft uns die so, als seien wir die potenten Magier, die einen neuen Zauberstab in die Hand bekommen.«
    Im offenen Schrank hinter Rosa stapeln sich die Magisterarbeiten, einige davon hätte er vor zwölf Wochen korrigiert haben müssen, »aber die sind im Moment nur die ...« er unterbricht sich selber, » ... das ist auch so eine rhetorische Selbstbetrugsformel, ˃im Moment˂, das kann man eigentlich immer streichen, es ist ja nicht nur im Moment so, sondern permanent, also noch mal: Die Arbeiten sind nur die Spitze des Eisberges, daneben sind da all die DFG- und Humboldt-Gutachten, Empfehlungsschreiben für Studenten, Drittmittelanträge, die Überarbeitung des Masterstudiengangs, mein Briefverkehr als Institutsleiter, Deadlines für Aufsätze – selbst wenn ich Tag und Nacht arbeiten würde, ich käme nicht hinterher. Am Ende kann man eigentlich nur vollständige Temporalinsolvenz anmelden. Das ist die einzige alltagspraktische Empfehlung, die ich selber habe, eine Art psychologische Guerillataktik, die man allen Chefs mitgeben müsste: Ihr schafft es eh nicht, also lasst euch Zeit. Wenn man verstanden hat, dass man keine Chance hat, alles zu erledigen, wird man gelassener und ameiselt ruhig sein tägliches Pensum runter.«
    Während des Gesprächs klingelt es irgendwo in Rosas Büro. »Oh«, sagt er, »das muss mein iPhone sein.«
    »Glaube ich nicht, das hat vorhin schon mal geklingelt, als ich alleine hier rumsaß, weil Sie und Ihr iPhone noch dachten, wir seien für drei Uhr verabredet.«
    »Dann ist das Skype. Ich gebe mit einem Australier zusammen eine Zeitschrift heraus und mache mit russischen Kollegen von der Moskauer Partneruni Telebridge-Seminare. Die haben mir alle derartig Druck gemacht, dass ich mir endlich Skype anschaffen soll. Das Resultat ist, dass jetzt noch ein Fenster offen ist und ich noch mehr Zeit mit Onlinekommunikation verbringe.«
    Internet, Handy, all die Technik sieht Rosa schlicht als

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