Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
Delikates zu reden, das war unmöglich.
Das hatte er weder in der Pubertät noch irgendwann später gekonnt. Hinsichtlich dieses Themas existierte zwischen den beiden eine dicke, undurchdringliche Mauer. In diesem extrem tabuisierten Bereich hatte von Anfang an eine völlige Sprachlosigkeit zwischen ihnen geherrscht. Und nun sollte ausgerechnet er seinem Vater klarmachen, dass diese Porno-Glotzerei für seine Mutter ein ernsthaftes Problem darstellte.
Das geht einfach nicht!, stellte er nüchtern fest.
Margot schien die enormen Schwierigkeiten, mit denen sich ihr Sohn gerade herumplagte, entweder zu kennen oder zumindest zu erahnen. Obwohl ihr persönlicher Leidensdruck so groß gewesen war, dass sie sich in ihrer Verzweiflung mit einem Thema an ihren jüngsten Sohn gewandte hatte, mit dem sie selbst genügend Probleme hatte, erlöste sie ihn dadurch von seiner Qual, indem sie anmerkte, wohl wirklich besser seinen Bruder um eine Intervention zu bitten.
Während des gesamten Essens dachte Tannenberg über diese Angelegenheit nach, kam aber zu keinem akzeptablen Ergebnis, außer der Einsicht, dass er für diese Sache definitiv der falsche Ansprechpartner war.
Erst als Marieke mit hängendem Kopf und verheultem Gesicht in der Küche erschien, wandten sich seine Gedanken der Beschäftigung mit einem anderen, allerdings nicht minder frustrierenden Thema zu.
Dieses Leid tatenlos mit ansehen zu müssen, war unerträglich, Folter pur. Wieder stand er kurz davor, seiner Nichte zumindest eine Andeutung darüber zu machen, dass Max noch lebte.
Was heißt denn ›noch leben‹?, dachte er. Der arme Max ist doch kerngesund! Der schläft ja nur! – Verdammt und zugenäht!
Halt ja deinen Schnabel, du Blödmann!, warf Tannenbergs innere Stimme ohne jegliche Vorwarnung ein. Und was ist, wenn du es ihr sagst und sie damit aus ihrem Jammertal herausholst – und Max ist inzwischen tot oder wird noch umgebracht, bevor ihr ihn aus dieser Klinik retten könnt? Was ist dann, du Pfeife?
Hast ja Recht!, gab er in seltener Einmütigkeit mit seinem Quälgeist zurück. Dann würde sie nur noch in ein viel tieferes Loch fallen. Denn jetzt hat sie ja zumindest schon einen Teil ihrer Trauerarbeit geleistet. Und dann ging ja alles wieder ganz von vorne los.
Diese Argumente hatten ihn überzeugt. Schweigend schaufelte er sich Apfelmus auf die linke Seite eines abgeschnittenen, länglichen Kartoffelpufferteils, klappte mit der Gabel die rechte Hälfte darüber, spießte sie auf und führte sie zum weit aufgerissenen Mund.
Obwohl dieses Gericht seit Jahrzehnten zu seinen Leibspeisen zählte, hatte sich an diesem Tag sein Appetit bereits nach wenigen Bissen verflüchtigt.
Plötzlich hörte er durch das geöffnete, zur Straße hin gelegene, Küchenfenster, wie mehrere Autos durch die Beethovenstraße an ihrem Haus vorbeibrausten. Zunächst dachte er sich nichts Besonderes dabei, handelte es sich doch schließlich um einen ziemlich normalen Vorgang.
Erst als er hörte, dass die Pkws in der Einbahnstraße nacheinander den Rückwärtsgang einlegten und nun entgegen der Fahrtrichtung zurückfuhren, begab er sich neugierig ans Fenster – und staunte nicht schlecht, als er drei schwere dunkle Limousinen mit stark getönten Scheiben und dem eindeutigen WI-Nummernschild ohne Buchstaben auf dem Bürgersteig vor dem Nordhaus abparken sah.
Die Schleicherin, die etwa hundert Meter weiter unten auf der anderen Straßenseite mit einer Frau an deren Haustür gestanden hatte, war vom Fahrer des ersten Wagens nach dem Haus der Tannenbergs gefragt worden.
„Dort, dort hinten, wo, wo das rote Auto steht“, hatte sie gestammelt, wobei ihr vor lauter Schreck fast das Gebiss aus dem Mund gefallen wäre.
Dr. Pfleger verließ als einziger den ersten Wagen.
„Tannenberg, ich muss Sie dringend sprechen!“, rief er so laut, dass sich nacheinander mehrere Fenster in der näheren Umgebung öffneten. „Wo können wir uns denn hier ungestört unterhalten?“
„Kommen Sie erstmal rein!“, forderte der Leiter des K1 und eilte anschließend zur Haustür.
„Wohin?“
„Hoch zu mir in den ersten Stock. Da sind wir ungestört. – Aber wo brennt’s denn eigentlich?“, fragte Tannenberg, während er den BKA-Beamten nach oben in seine Wohnung geleitete.
Kriminaldirektor Dr. Pfleger ging auf das Informationsbegehren des Kaiserslauterer Ermittlers nicht ein, sondern wartete gespannt, bis Tannenberg die alte, knarrende Holztür ins Schloss gezogen hatte.
Dann
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