Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
für ihn abfiel.
„Bruderherz, was hältst du denn von einem spontan einberufenen Skatabend? Hättest du nachher Zeit?“, fragte Tannenberg einladend, allerdings ohne ernstliche Gegenwehr zu erwarten.
„Klar, das wär richtig gut. Betty ist schon vor ’ner halben Stunde weg zur obligatorischen Walpurgisnacht-Veranstaltung ihrer Frauengruppe …“
„Oh je, da schwingen diese Kampfweiber wieder ihre Reisigbesen und schwören, uns elenden Macho-Kreaturen nun endgültig den Garaus zu machen“, unterbrach Wolfram Tannenberg lachend. „Ich ruf den Rainer an und sag dir dann Bescheid. Hoffentlich hat der Zeit.“
„Wenn er nicht kann, frag ich den Theo. Du weißt doch, dass er auch mal gerne mitspielen würde.“
„Was ich ja bislang zum Glück erfolgreich verhindern konnte. Ein unverbesserlicher Alt-68er in meinem direkten persönlichen Umfeld reicht mir nämlich völlig. Ach, was sag ich Ein ? Quatsch! Es sind ja derer zwei! – Entschuldige, Bruderherz, fast hätte ich deine geliebte Gattin Elsbeth vergessen.“
„Alter Frozzeler!“
„Was ist denn mit den Kindern, sind die heute Abend auch aus dem Haus?“
„Ja, Marieke ist wegen der Sache mit ihrem angeblichen Freund bei ’ner Klassenkameradin – zum Heulen denk ich.“
„Mensch, Heiner, was bist du doch für ein gefühlskalter Eisklotz! Hast du denn überhaupt kein Mitleid mit deiner armen Tochter?“
„Warum denn? Der Kerl hat doch gar nichts. Die haben ihn doch bloß ein paar Tage zur Erholung in ein künstliches Koma gelegt.“
„Na, Gott sei Dank! – Was ist denn mit Tobi? Du weißt ja, wie peinlich es ist, wenn wir drei alten Knacker guter Stimmung sind und ungehalten vom Leder ziehen. Da ist es schon nicht schlecht, wenn wir unsere Ruhe haben und wir nicht gerade von einem unverdorbenen Jugendlichen belauscht werden.“
Heiner lachte laut auf. „Unverdorbener Jugendlicher? Na, wenn ich mir diese Jungs heute so anschaue, was die so alles treiben … Da waren wir dagegen doch wohl verklemmte Waisenknaben früher …“
„Du vielleicht!“, warf Tannenberg keck dazwischen. „Ich nicht!“
Sein Bruder überging die Bemerkung. „Hoffentlich stellt der Tobi mit seinen Kumpels in der Hexennacht nichts an. Das wär nämlich gar nicht so gut … Wo sein Onkel doch so ein hohes Tier bei der Polizei ist.“
Heiner grinste über alle Backen.
„Das wär wirklich nicht so gut. Aber weißt du, was in so einem Fall noch weitaus peinlicher wäre?“
„Nee.“
„Wenn seine Eltern Lehrer wären! Dann müsste man nämlich annehmen, dass sie in der Erziehung versagt hätten.“
„Warum musst du nur immerfort provozieren, Wolf?“
„Provoco – ergo sum!“
„Was?“, fragte Heiner verständnislos.
„Ich provoziere – also bin ich! In Abwandlung des berühmten Zitats von René Descartes: Cogito – ergo sum. Als Übersetzung für dich: Ich denke, also bin ich.“ Tannenberg stellte sich direkt vor seinen Bruder, fasste ihn mit beiden Händen an der Schulter und rüttelte ihn leicht. „Hättest dich eben doch ein wenig mehr mit Philosophie als mit deiner Revoluzzer-Politik beschäftigen sollen.“
Kommentarlos und kopfschüttelnd verließ Heiner daraufhin die Wohnung.
Diese nach Tannenbergs Bewertung hervorragend gelungene Doppel-Attacke gegen die nicht leiblich anwesende Schwägerin und den nach seiner Meinung lern- und veränderungsresistenten Bruder beflügelte Tannenberg. Eine weitere Steigerung erfuhr sein Wohlbefinden durch die Zusage Dr. Schönthalers, mit dem er in der Vergangenheit schon manche Schlacht mehr oder weniger erfolgreich geschlagen hatte.
Er beschloss die Vorfreude auf den Männerabend mit geeigneter Musik zu untermalen. Prüfend durchstöberte er seine umfangreiche CD-Sammlung, bis seine Augen bei Pink Floyd hängen blieben.
Genau! Das muss es jetzt sein!, stellte er unmissverständlich fest: ›The Wall‹. Und zwar die Stelle mit dem Hubschrauber.
Plötzlich wurde ihm auch der Grund für seine spontane Entscheidung bewusst: Sie war ausgelöst worden durch die Erinnerung an das Geräusch, welches der Eurotransplant-Helikopter auf dem Gelände der Schlossklinik erzeugt und mit einer rot glühenden Nadel in sein Gedächtnis eingebrannt hatte.
Er legte die silberne Scheibe in seine alte Stereoanlage, drückte aber noch nicht auf den Startknopf.
Mit leichtem, federndem Schritt eilte er zu seinem Kühlschrank, entnahm ihr eine angebrochene Flasche Chardonnay, zog den Edelstahlpfropfen aus dem grünlichen
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