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Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall

Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall

Titel: Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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hier überhaupt ertragen zu können.
    Unterdessen fuhr der Leiter der Schlossklinik mit seinem kleinen medizinischen Fachvortrag fort: „Sein Gehirn wurde längere Zeit nicht mit Sauerstoff versorgt und ist deshalb irreversibel geschädigt. Sie können es hier selbst sehen.“ Er machte einen Schritt auf die Monitore hinter Maximilians Bett zu und zeigte auf einen der Bildschirme: „Hier an diesem Gerät, das seine Gehirnströme aufzeichnet. Es zeigt sehr anschaulich, dass bei Herrn Heidenreich nur noch sehr eingeschränkte – oder besser gesagt: nur minimale – neuronale Aktivitäten vorhanden sind.“
    „Kann er mich denn wenigstens hören?“
    „Nein, er ist leider nicht mehr bei Bewusstsein. Sehr wahrscheinlich war er es auch seit seinem Unfall nicht mehr“, antwortete der Professor über seine Lesebrille hinweg und ergänzte nach einer kurzen Pause: „Er wird auch nie mehr zu Bewusstsein kommen. Er ist definitiv hirntot.“
    „Wer definiert denn das? Wer überprüft das?“, warf Tannenberg skeptisch dazwischen.
    „Ein unabhängiges Expertengremium, mein Herr. Da können Sie völlig unbesorgt sein. Nachdem wir die gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen durchgeführt haben, werden wir nachher unten in der Pathologie den Hirntod endgültig diagnostizieren. Aber Sie können wirklich sicher sein, dass der Patient von dem, was nach seiner schweren Hirnschädigung passiert ist, nichts mehr mitbekommen hat.“
    Er ging zu Marieke, legte ihr väterlich seinen Arm auf die Schulter und fuhr fort: „Vielleicht kann diese Gewissheit Sie in Ihrem Schmerz ja ein wenig trösten. Ich verlasse Sie nun, damit Sie in aller Ruhe Abschied von ihm nehmen können.“
    Gleich nachdem der Arzt den schmucklosen Raum, in dem als einziges belebendes Element ein stark duftender Fliederstrauß ein einsames Dasein fristete, verlassen hatte, schmiegte sich Marieke eng an ihren Onkel.
    Die nächsten Minuten waren geprägt von andächtiger Ruhe, die nur ab und an vom lauten Gezänk streitlustiger Elstern, die anscheinend direkt vor dem Fenster wilde Verfolgungsjagden durchführten, unterbrochen wurde.
    Es hatte nicht lange gedauert, bis Tannenbergs Gehirn die traurige Situation, in der er sich gerade befand, dazu nutzte, ihn mit schmerzlichen Bildern aus der eigenen Vergangenheit zu bombardieren.
    Den starren Blick auf Maximilians Thorax gerichtet, der sich immerfort in stetem, montonem Rhythmus hob und senkte, tauchte er vollständig ein in seine Gedankenwelt, die sich nur noch mit einem einzigen Thema beschäftigen wollte: Den Ereignissen des 24. Septembers 1996, dem Tag, an dem Lea starb.
    Tannenbergs Zeitreise war kein kurzzeitiger Spaziergang auf einer leichten, flüchtigen Erinnerungsspur oder gar ein punktuelles Déjà-vu-Erlebnis, wie es sich manchmal mit aller Macht in die Gegenwart drängt und das unvorbereitete Bewusstsein anfallsartig überfällt, um sich schon wenige Zeit später wieder in höhere Sphären zurückzuziehen. Nein, die unergründbaren Mächte des Schicksals hatten dafür gesorgt, dass er diesen bittersten Tag seines Lebens noch einmal erleiden musste.
    Er war kein distanzierter Beobachter der damaligen Ereignisse. Er war kein Zuschauer, der mit räumlichem und zeitlichem Abstand sich einen Film über sein Leben betrachtete. Er war leibhaftiger Teil seiner eigenen Vergangenheit. Er durchlebte einzelne Szenen dieses Tages mit einer unvorstellbaren Intensität.
    Die Wanduhr zeigte mit dem kleinen Zeiger genau auf die 6 und der große auf die 12.
    Dieses Morgengrauen hatte seinen Namen wirklich verdient.
    Am Ausgang einer wachend an Leas Bett verbrachten Nacht war er irgendwann völlig übermüdet in seinem Sessel eingenickt. Ein lautes Klirren riss ihn aus einem tiefen, traumlosen Erschöpfungsschlaf. Ein Wasserglas war vom Nachttisch gefallen und auf dem Parkettboden in viele Teile zersplittert.
    Als er hektisch blinzelnd die Augen öffnete, sah er Lea mit weit aufgesperrtem Mund, großen, leblosen Augen und nach hinten überdrehtem Kopf laut schnaubend vor ihm liegen.
    Er erschrak fürchterlich.
    Es war ein grausiger, unerträglicher Anblick. Im ersten Augenblick war er völlig gelähmt, zu keiner Handlung fähig. Dann ergriff er ihren total verkrampften Arm und suchte nach ihrem Puls. Er raste.
    Zwar hatte ihn Lea in langen Gesprächen darauf vorzubereiten versucht, dass genau solch ein Szenario den natürlichen Sterbeprozess einleiten könne. Es war die Variante: schwerer Hirnschlag, verbunden mit einem

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