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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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Panslawismus, welch Letzterem freilich nicht einmal Bakunin ferngestanden habe, seien hier, auch wenn Stalin aus Grusien, sprich Georgien stamme, am Werk. Josef Stalin habe sie bei Lenins Tod ins politische Spiel gebracht, und beim nunmehrigen Tod Stalins seien sie im Spiel geblieben. Soweit zum Unsterblichen. Von Opfern oder von Bakunins Staat und Anarchie oder Lenins Staat und Revolution wolle er heute nicht reden. Falls ich es wünsche, könne er mir als Veterinärhelfer schildern, was der Tierkörperpräparator alles anstellen müsse, um ein Lebewesen, sei es Schwein oder Bär, sei es auf Pirsch erlegt oder friedlich eingegangen, für länger präsentabel zu machen.
    Zwar schien mir erforderlich, wenn überhaupt, dann in diesem Augenblick, als schützendes Ideengefäß auf den Plan zu treten, doch brachte mich Leonhards Erkundigung, ob wir bei der Prozession wirklich dreihunderttausend Trauernde gewesen seien, davon ab.
    »Sagt der RIAS das? Dann waren wir doppelt so viele.«
    »Eure Zahlen bezweifle ich nicht. Wenn deine Partei euch betroffen wünscht, strömt ihr in betretenen Scharen zuhauf.«
    »Bezweifelst du unseren Verstand?«
    »Den weniger, aber deine Vernunft.«
    Die Musikpädagogin Adele ermahnte ihren Mann, nichtpersönlich zu werden, und legte die wirklich sehr häßliche Okarina auf mein Bett, als mache sie für den Fall seines Zuwiderhandelns ihre Hände frei.
    »Sie hat recht«, sagte ich, »wenn man bei dem Thema persönlich wird, stimmt bald nichts mehr.«
    »Wenigstens setzen könnten wir uns«, sagte Adele und ging, weil meines zu eng für uns drei war, ins Zimmer der Familie Bick. Wir folgten und nahmen gemäß dem Hausbrauch zur Linken Adeles auf dem Sofa Platz, dessen ausgekuhlte Sitzpolster und gerade Lehne über die Körperhaltung der Nutzer bestimmten. Ob diese Ordnung mit Leonhards verpfuschtem Mund zu tun hatte oder eine Entsprechung der Niklasschen Verstörung war, fand ich nicht heraus. Man saß aufrecht nebeneinander und sprach aufrecht über den Eßtisch hin zu einem Wandstück voller Fotos, auf denen nichts als Bick-Verwandte und mehr als ungehalten blickende Anarchisten zu sehen waren.
    Schon um von der Okarina und deren mythischer Bewandtnis wegzukommen, schilderte ich unseren Versuch am Rosenthaler Platz, mit Hilfe persönlicher Erfahrungen dem Obersten Sowjetmenschen gerecht zu werden, und wähnte sogleich, von anarchistischer Empörung nicht nur zur Rechten doppelt flankiert zu sein, sondern einer breit gefächerten und in solchem Gefühl vereinten Front gegenüberzusitzen.
    »Manchmal sind studierte Historiker und lehrende Professoren nicht zu glauben. Akademische Schweizerdegen schon gar nicht«, sagte Leonhard Bick. »Was hat es mit der Bewertung von dem Kerl zu tun, daß du noch am Leben bist? Ist das Pidgin-Geschichte: Wenn du tot, dann er schlecht; wenn du lebst, dann er gut?«
    »Danach müßten ja die Russen, die Hitlers Lager überlebten, für Hitler sein«, sagte Adele.
    »Dann hätte dein Stalin wirklich Grund gehabt, sie wieder einzusperren«, sagte Leonhard.
    »Mein Stalin oder nicht; ich verdanke ihm eine angenehme Enttäuschung«, sagte ich.
    »Dann verdanken seine Toten ihm, daß sie recht behielten«, sprachen in chorischer Disziplin meine Wirte, die Anarchisten.
    »Pidgin-Geschichte«, sagte ich und floh in mein Bett.
    Wohin mir Leonhard vom Korridor zurief: »Pidgin für Verstehen gedacht! Night, night!«
    »Night, night«, murmelte ich, konnte aber nicht gleich schlafen. Weil mich an dieses Tages Ende der Gedanke ankam, ich solle mich zur Kondolenz in die Schlange vor der sowjetischen Botschaft begeben und dem erstbesten Attaché eröffnen, mit mir habe es eine Stalinsche Bewandtnis, von der ich in Anbetracht der neuen Situation gern Genaueres wüßte. Da ich mit hochgreifendem Beileid ähnlich ungeübt wie in allgemeinen Protokollfragen war, kramte ich lange in der Letternlade nach dem passenden Ausdruck. So blendend mir meine Idee am Abend scheinen wollte, so nachtblind kam sie mir am Morgen vor.

31
    Falls sich fragt, warum ich einmal Aufwand treibe und anderes knapp erwähne: Wo der Bericht knapp scheint, wurde er nur zusammengestrichen. Kaum war er in Gang, durchsetzte ich ihn mit Warnzeichen. Nach Vergangenem befragt, meint man, es erläutern zu müssen. Beleg genügt nicht; Bewertung soll sein. Das Leben, wie es war? Gut, doch besser eins mit Kommentar.
    Mit meiner Freundin Fedia, die mir allerdings nach ihrem wortlosen Verschwinden und nach einem

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