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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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als sie vorschlug, den angebrochenen Arbeitstag zur Spätschicht auszuweiten. Weil ich unter dem Einfluß Flairs auf meine Rechte sah, handelte ich akzeptable Daten aus und half dem Klima mit der Behauptung auf, der sperrige Gegenstand sei ein eben erworbenes Sparschwein. Frau Moeller führte das auf die Lohnpolitik ihres Hauses zurück und wollte wissen, wie es bei der Beerdigung von Herrn Stalin gewesen sei.
    »Viele Leute«, sagte ich, »unabsehbare Massen geradezu.«
    Das, sagte Frau Moeller, zeuge von einer Stärke des Volkseigentums, da sich privatwirtschaftliche Unternehmen solche Anteilnahme gar nicht leisten könnten.
    Als ich versuchte, die Nähe dieses Gedankens zu einem des Kommunistischen Manifest herauszustellen, verließ sie den Setzraum mit dem Bemerken, ihre eigenen Bücher gäben ihr vollauf zu tun. Um ihr deren Lektüre angenehm zu machen, sorgte ich durch den Rest des Tages mit Arbeitsfleiß und schwarzer Kunst für schwarze Zahlen. Rechtschaffen fuhr ich am Feierabend, der in den mittleren Abend fiel, nach Nordend und teilte mich im Verlauf der schlingernden Passage unterschiedlichen Fragen zu: Ob ich eine mir seit längerem bekannte Bekannte spontan besuchen solle. Ob sich im Fahrgastraum der Elektrischen etwas von Valmy und Vonhierundheute erkennen lasse. Das eine verwarf ich, weil es Überraschungengibt, die man besser unterläßt. Das andere versah mich mit dem Verdacht, ich könne im rumpelnden Waggon der Linie 46 der einzige Reisende von so hochfliegender Denkungsart sein. Darauf, daß außer mir keiner ein Parteiabzeichen unter seinem maulwurfs- oder sonstwiefarbenen Mantel trage, hätte ich wetten wollen. Auf die Wahrscheinlichkeit, niemand auf den Straßenbahnbänken ringsum habe eine Okarina dabei, ohnehin.
    Adele und Leonhard lauschten dem RIAS-Kammerchor und riefen mir zu, sie würden sich nach Ende der Sendung melden. Ich hatte mein Teewurstbrot hinter mir und ein Bier in Gang, als Adele klopfte. Sie fand das irdene Instrument so häßlich wie es war und blies Suliko darauf. Es verwirrte mich; ich fühlte mich versucht zu erzählen, außer ihr und dem Verkäufer habe nur Jossif Wissarionowitsch mir derart aufgespielt. Jener just verstorbene Tonangeber, von dem es hieß, Suliko sei sein Lieblingslied gewesen. Mir, von dem es heißen durfte, er höre Suliko aus prinzipiellen Gründen lieber als den RIAS-Kammerchor, habe der Allunionsherr in einer Mitternacht solistisch musiziert und überdies aufgetragen, Wächter über sein Ideenwerk zu sein.
    Doch hatte ich mich bei meinem langen Warten auf Grüße aus Gori oder Moskau vorsorglich mit ideellen Puffern versehen. Die Blamage, dem ersten besten Pfiffikus, und komme er mit einer Okarina und mit Suliko daher, mein Immer bereit! aufzusagen, wollte ich mir ersparen. Auch schien der Gedanke, Adele Bick, möblierte Wirtin und Anhängerin von Musikologie und Anarchie, könne sich als Kurierin des Kreml entpuppen, abwegig genug, ihm mit Stirnrunzeln zu begegnen. Wenngleich mich die kumulierten Begebnisse meiner polnischen wie postpolnischen Jahre auf Unvorhersehbares vorbereitet hatten, konnte ich an eine abgesteckte Route nicht glauben, auf der ich von der Parteischule, deren Leiter ich den Schuß Pulver nicht wert gewesen war, über den Genossen Strickland, dem ich ein Fall für Aue schien, sowie an der Liebknecht-Haus-Pförtnerin vorbei, die einen Konditor in mir vermutet hatte, nach Nordend zu den Eheleuten Bick gelotst worden wäre. Zu einem Anarchistenpaar, dessen weiblicher Teil mir am Ende des Stalin-Gedenktages so anziehend Suliko aufführte, daß der männliche aus dem ehelichen Wohn- und Musikzimmer trat und ungeachtet der für ein Mietshaus späten Stunde sowie seiner schlecht vernähten Oberlippe laut und anrührend das Lied vom Liebstengrab an sich zog. Während Adele in eine dienende Rolle fiel und ihren Mann auf dem maulwurfsfarbenen Instrument kundig begleitete.
    »Dann schon lieber Unsterbliche Opfer «, sagte ich, doch wollte Leonhard davon nichts wissen. Weil der, den ich bei dieser Melodie im Auge habe, dort, wo bis eben noch das Sagen seins gewesen sei, von denen, die da jetzt statt seiner das Sagen hätten, so wenig für unsterblich gehalten werde, daß sie Drogistenwesen, Präparatorenchemie und Glaserhandwerk aufböten, um ihm eine stoffliche Langlebigkeit zu sichern. Stalins Unsterblichkeit und, halten zu Gnaden, in diesem Punkt die von Lenin genauso, habe weniger mit Marx als mit Madame Tussaud zu tun. Panoptikum und

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