Okarina: Roman (German Edition)
zugunsten einer ungegängelten Dramatik per Tischbeißen mitzutun bereit wäre. Die volkseigene Leiterin sollte man mir zeigen, die ihrem Volk nicht von Börse sprach, als sei die das Böse mit rollendem R. Wo sonst war eine Chefin, die ihren Mitarbeiter am Marktgang beteiligte und ihn in fremdländische Drucksachen Einsicht nehmen ließ, welche Leben mit Life übersetzten und Norma mit Marilyn .
Weil Entfremdung ein nennenswertes Hauptwort ist, hier ein Wort dazu, das von Erfahrung herkommt: Den Sommer 1945 verbrachte ich in einem Lager bei Pulawy, das für Zehntausend gedacht und mit Zwanzigtausend überfüllt war. Selbst im Freien ging es beengt zu, obwohl die Zwanzigtausend nur soviel wie Fünfzehntausend wogen. Nachts mußten wir wegen Fluchtgefahr in die Baracken. Was wir belachten, weil wir mit Heimkehr rechneten. Einmal schien sie in Gang zu kommen. Nach langem Zählen wurden die Gehfähigen in Marsch gesetzt. Jeweils hundert durchs Tor. Zum Bahnhof, hieß es. Wir bekamen neue Posten. Transportsoldaten, hieß es. Der Hauptbewacher sei ein Tatare, hieß es. Alle, die aussahen wie er, nannten wir so. Oder wir nannten sie Mongolen oder Kalmücken. Er war Usbeke, und es ging nicht zum Bahnhof. Auf halbem Wege kam uns die Spitze unserer Kolonne entgegen. Sie ging langsam wie hinterm Sarg. Der Tatare an sich kenne nur dieses Tempo, hieß es. Als wir lostaumelten, bedeuteten uns die Posten, die sonst unsere Beeilung schätzten, wir sollten schlendern. Wir waren knapp bei Kräften, aber der Bahnhof beschleunigte uns. Den Bewachern das Schlendern nachzumachen, besaßen wir ihre Kräfte nicht. Wir konnten nur wie die Schnecken kriechen. Zuerst wie frohgemute, dann wie bedrückte Schnecken. Auf dem Rückweg wie Bauchfüßer unter schwerer Last. Ein jeder trug einen Stein. Einen Ziegel, an dem Reste von Mörtel waren. Man lud sie uns am Scheitelpunktder Kriechspur auf. Jedem einen. Fünfzehntausend Steine auf die Kolonne. Als wir uns auf dem Heimweg wähnten, hatte einer herausgefunden, für fünfzehntausend Mann seien dreihundert Güterwagen nötig. Er solle seine Fresse halten, sagten wir. In die Heimat führen wir stehend zu hundert im Waggon. Dann einhundertfünfzig Waggons, sagte der Rechner. Gut, daß jeder vierte im Lager nicht laufen könne. Sonst müßten es zweihundert Wagen sein. Leider nur gehe es nicht zum Bahnhof, sondern beladen ins Lager zurück. Fünfzehntausend Marschfähige mit je einem Stein, das mache fünfzehntausend Steine. Es sah eigenartig aus, so viele Leute, so wenig Last. Wie eine Flotte mit je einer Kiste auf dem Deck. Wie eine Karawane mit einer Hutschachtel pro Kamel. Auf dem Rückweg erfuhr ich, was ein Stein mit einem Träger anstellt, der sich kaum selber tragen kann. Er wog wie ein Kamel und ich wie Stein. Alle hundert Schritt erhöhte der Ziegel sein Atomgewicht. Alle dreihundert Schritt hob er seinen Druck ins Quadrat. Auch merkte ich, was es macht, wenn man eine Arbeit macht und nicht weiß, was man macht. Erst später habe ich meine Verlorenheit in der Kolonne, die sich an Mauersteinen wie an Pyramidenquadern schleppte, mit G. W. F. Hegel zusammengebracht. Auf mich war gemünzt, was er von Selbstentfremdung schrieb. Ich war gemeint, wo er von der verlorengegangenen Einheit des Menschen mit dem Menschen sprach. Auch Engels traf meine Verfassung, der notierte, wie ungut dem Menschen bei entfremdeter Arbeit ist. In unfreien Verhältnissen, ließ er mich wissen, sei dem Arbeiter auch die Arbeit selbst etwas Äußerliches, weil er sich in ihr »nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert«. Mir waren, als ich unterm Joch eines Steins wie ein tatarischer Posten zu schlendern versuchte, diese Worte nicht bekannt, aber als ich sie kannte, machte ich Gebrauch von ihnen und behauptete, bei ruinösem Tun habe ich mir meine Physis abkasteit und meinen Geist ruiniert. Unterm Schneckenstein trat mir die Wirkung vor Augen, auch wenn ich nicht wußte, daß sie beschrieben stand. Gleich unbelesenen überladenen Schnecken schlichenwir unwissend vom Ausgangspunkt zum Endpunkt. Unsere Bewegung war alles, unser Ziel insofern nichts, als es eins war mit dem Startpunkt. Aber insofern alles, als ich den Stein dort loswurde. Am Zielpunkt warf ich ihn wie eine steinerne Kiste auf die anderen Steine. Die Tataren achteten, daß wir die Ziegel sauber schichteten. Sie
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