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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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Geschichtsbewußtsein reden, einem Begriff, der zeitweilig streng bei uns in Mode stand. Ehe ich beides versuche, ein Wort zu Privatem: Wie es zu Berliner Straßen sogar im Falle paßt, sie führen durch Viertel von historischem Belang, kam die Troika an Wegmarken vorbei, die mir, auch wenn sie zu dieser Stunde ihres Sinns beraubt schienen, als Litfaßsäulen erkennbar waren. Als nackte und ihres Mantels aus Papier und Leim entkleidete Anschlagsäulen. Zwar übertönte die Okarina, auf die ich gleich kommen will, in Intervallen fast alles andere, Hitlers Bellen, Goebbels’ Jaulen, Görings Ordensgeklirr, den Richtspruch der Justiz, den Anspruch der Finanz, Dimitroffs Goethe-Deutsch und Lubbes zertrümmertes Stammeln, aber für die gehäuteten Plakatsäulen hatte ich als zeitweiliger Pferdeführer, der erst später mit einem Aufsatz über Litfaß aus seiner kleinen Welt in die Fachwelt geraten sollte, nicht nur ein Auge. Es dauerte, ehe ich die ausgeweideten Reklameträger als das erkannte, was sie waren, und noch länger dauerte es, bis ich begriff, was mit ihnen geschehen war. Obwohl sich die von Flair ins Spiel gebrachte Okarina über allem behauptete, sah ich den Winter, in dem Berlin seine Kohlenkeller so ausgekratzt, seine Ruinen so ausgeholzt, seine Parks so entwurzelt hatte, daß es Hand an die berlinischste aller Säulen legte und unter Aufwand von rarem Geschirr und rarer Kraft deren zeitgeschichtlichen Belag zu brennbaren Briketts zersägte. Auch wenn die verstörende Okarina mich hinderte, die in Jahren steinhart und wanddick gewordene und von frierenden Bewohnern längst entwendete Tapete aus Papier und Leim in all ihre Jahresringe zurückzudenken, stellte ich mir Bohrproben vor, Bohrkerne aus Kinoplakaten, die von »Tarantella« im letzten Friedenssommer bis »Kolberg« im letzten Kriegswinter reichten. Lage für Lage hob ich ab, sah Musterungslisten, Gestellungsbefehle,Konzerthinweise, Urteile des Volksgerichts, Vollzugsbescheide aus den Kellern der Henker in die Lauben künftiger Täter, Spendenappelle an die Besitzerinnen von Pelzmänteln, Verdunkelungsvorschriften alliierter Terrorflieger wegen, Warnungen vor dem Feind, der mithöre, und vor jeglicher Vergeudung, die Groschengrab hieß. Zufolge der Aufrufe auf versteinertem Papier und zwischen versteinertem Leim sollte ich Maulbeerbaumblätter sammeln, Seidenraupen züchten, Räder rollen lassen für den Endsieg. Und zwar fanatisch und tapfer, weil der plutokratischjüdischbolschewistischsowjetangloamerikanischasiatischuntermenschliche Feind so feige wie heimtückisch und perfide war.
    Das Pferd am Zügel, die Karre am Pferd, den Künstler und den Schmuggler an meiner Seite, fühlte ich mich zwar hinterm Wilhelmplatz auf der Wilhelmstraße versucht, die skelettierten Stelen ins Gespräch zu bringen, weil ich nicht sah, wie mir der Fachmann Flair ihre Eignung für ein Bühnenbild ausreden könnte. Und weil ich mir vom Experten Slickmann eine faktenreiche Expertise zu Aufwand und Nutzen beim Ausschlachten von Litfaßsäulen versprach, dazu eine Kalkulation des erforderlichen Werkzeugs, der vermutbaren Brennwerte sowie einiger Personal- und Transportprobleme. Jedoch setzte sich die schrille Frage durch, wie um Himmels willen die Okarina in die Rede des deutschen Bühnenmannes Gabriel Flair geraten sei.
    Das Wort war ja nicht in einer Aufzählung archaischer Musikinstrumente gefallen, also dort, wo es so gut wie unvermeidlich schien. Vielmehr tauchte es inmitten einer etwas herbeigezogenen Rede über den Signalwert von Tönen auf. Weshalb niemand außer mir hätte aufmerken müssen. Weil vermutlich niemand außer mir vom Signalwert von Okarinatönen wußte. Weil womöglich, das nehme ich jetzt einfach an, außer mir niemand den Generalissimus Stalin die Okarina hat blasen hören.
    Es ist dies immer noch eine Mitteilung von Brisanz. Weit mehr als heute war sie es, als ich sie zum ersten Mal machte. Unmöglich hätte ich bekennen dürfen, Ohrenzeuge vom Okarinaspiel des Kremlherrn gewesen zu sein. Als ich es danndoch tat, ging es nur, weil ich den Bericht als belletristische Erfindung ausgab und an unverfänglicher Stelle unterbrachte.
    Die Szene, die mit Stalins okarinauntermaltem Abgang endete, diese auch für mich längst unglaubliche Szene gipfelte in Stalins Auftrag an einen verwirrten deutschen Gefangenen, er möge sich für den mißlichen Fall einer Niederlage als Gefäß der Ideen des Weltenführers bewähren. Einfach, indem er sie bewahre. Was zu

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