Oksa Pollock. Der Treubrüchige
fuhr die Sensibylle fort, während alle ihr wie gebannt lauschten. »Bisher ist wohl niemand von euch auf die Idee gekommen, die Fenster und Türen zu isolieren?«
»Liebe Sensibylle«, sprach Dragomira sie sanft an. »Ich habe dich etwas gefragt.«
»Ja, ja. Ich weiß! Aber ich sterbe vor Kälte!«
Abakum unterdrückte einen Seufzer, hob das kleine Huhn in seiner Wattekugel so vorsichtig wie möglich hoch und stellte sich zusammen mit ihm dicht an den Kamin.
»Endlich mal jemand, der mich versteht!«
»Wir haben nicht mehr viel Zeit, Sensibylle«, sagte der Feenmann flehentlich.
»Pfft«, machte das Huhn und schüttelte sich. »Das Medaillon ist da, wo Mercedica es versteckt hat!«
»Ein außerordentlich wertvoller Hinweis!«, spottete Orthon.
»Eine Frau hier im Raum kennt das Versteck«, fuhr die Sensibylle fort.
Orthon brüllte vor Wut und griff brutal nach Catarinas Arm.
»Sie lügt!«, stöhnte diese. »Ich weiß nichts.«
»Hört auf, mich zu beleidigen! Ihr solltet wissen, dass Sensibyllen niemals lügen – aus dem einfachen Grund, dass wir gar nicht lügen können. Wenn ich sage, dass eine Frau das Versteck kennt, ist das so. Ich habe niemals behauptet, dass Ihr diese Frau seid!«
»Lasst endlich von diesem Schloss ab!«, erklang plötzlich Maries Stimme.
Verblüfft hielten die Treubrüchigen, die sich um die Schmuckkassette drängten, inne, und alle Blicke richteten sich auf Oksas Mutter, die kerzengerade in ihrem Rollstuhl saß und Orthon herausfordernd ansah.
»Das hätten Sie nicht erwartet, oder?«, sagte sie. »Ich bin es, die das Geheimnis dieser Schatulle kennt.«
»Na?«, fragte da die Sensibylle. »Behauptet immer noch jemand, ich hätte gelogen? Ich verlange eine Entschuldigung. Man soll mich um Verzeihung anflehen!«
Dragomira musste sie wieder in ihre Tasche stecken, damit sie den Schnabel hielt. Endlich verstummte das kleine Geschöpf.
»Was glaubt ihr denn?«, fragte Marie und wandte sich an die Treubrüchigen. »Dass die arme Behinderte, die ich in euren Augen bin, untätig in ihrem Zimmer herumsaß? Keineswegs! Obwohl ich nicht mehr viel tun kann, habe ich die wochenlange Abgeschiedenheit genutzt und euch beobachtet, euch zugehört und vieles verstanden. Besonders an dem Tag, als ich Mercedica dabei ertappt habe, wie sie das Medaillon beiseitegeschafft hat. Sie konnte sehr grausam sein, ohne Skrupel und Gefühle. Doch ihr Herz war nicht so verdorben wie das Ihre, Orthon. Wissen Sie überhaupt, was es bedeutet, ein Herz zu haben?«
Der Treubrüchige schnalzte verärgert mit der Zunge. Da wandte sich Marie an Dragomira und Abakum.
»Mercedica hat euch auf eine schreckliche Weise verraten, paradoxerweise hat sie jedoch die Wahrheit gesagt, als sie von ihrer Ergriffenheit bei eurem Wiedersehen in Paris sprach. Und zum Andenken an eure langjährige Freundschaft hat sie mir anvertraut, wie man, wenn nötig, an das Medaillon herankommt.«
Orthon trat mit einer Drohgebärde auf Marie zu.
»Es nützt nichts, sich an mir zu vergreifen«, sagte diese. »Sie glauben doch wohl nicht, dass es so einfach ist? Mercedica war vorausschauend. Sie hat mir verraten, wo das Medaillon ist, aber das genügt noch lange nicht, Sie werden schon sehen …«
»Wie geht diese verfluchte Schatulle auf?«, schrie Orthon außer sich.
»Hören Sie auf, hier herumzuschreien«, entgegnete Marie ruhig. »Es gibt ein Codewort.«
Orthon platzte fast vor Wut. Die Adern an seinem Hals traten hervor, und seine Augen blitzten, doch es gelang ihm schließlich, eine gewisse eiskalte Überheblichkeit an den Tag zu legen.
»Alle nannten deinen Vater Ruppert, nicht wahr, Catarina?«, fragte Marie Mercedicas Tochter. »Aber er hatte eine andere Identität angenommen, um den Nazis zu entkommen, nicht wahr? Und Mercedica und du, ihr wart die Einzigen, die seinen echten Vornamen kannten.«
Catarina sah sie verblüfft an.
»Samuel«, sagte sie.
Sogleich sprach Orthon den Namen dicht vor dem Schloss aus. Nichts geschah.
»Sie sind wirklich erstaunlich naiv«, sagte Marie spöttisch. »Mercedica hat MIR die Lösung anvertraut, nicht Ihnen! SAMUEL!«, sagte sie nun ihrerseits.
Sofort öffnete sich die Schmuckschatulle und enthüllte Hunderte von Halsketten, Ohrringen und Armbändern.
»Stimmerkennung«, murmelte Oksa und sah ihre Mutter bewundernd an. »Wie schlau!«
Orthon stürzte sich auf die ineinander verschlungenen Schmuckstücke. Jedes einzelne war prachtvoll, funkelnde Meisterwerke aus Diamanten,
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