Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Fähigkeiten kann etwas gegen die unheilvollen Kräfte der Schauerlichen ausrichten. Ihr könnt nur eines gegen sie verwenden, und das ist der gelbliche Dunst, der hier in der Luft hängt. Trotz seines widerlichen Geruchs ist er Euer bester Schutz. Doch seine Wirksamkeit ist von derselben Beschaffenheit wie er selbst: flüchtig und kurzlebig. Ihr müsst Euch also beeilen. Wenn der Dunst sich auflöst, fallen die Schauerlichen in dieses Heiligtum ein und berauben Euch und alle anderen ihres Lebens. Zögert also nicht! Es schmerzt mich, das sagen zu müssen, doch es gibt keine andere Lösung: Ihr müsst das Herz-Erforsch zerstören!«
»Wo ist es denn?«, fragte Oksa.
»Dort«, sagte der Rabe und deutete mit dem Schnabel auf das Becken, aus dem nun riesige Blasen aufstiegen. »Vermischt Euer Blut mit dem Inhalt der Phiole, die ich dem Jungen geschenkt habe, und werft sie auf das Herz-Erforsch, dann wird der Zauber des Zerfalls Euch befreien. Und nun muss ich zu den Meinigen zurückkehren, oder jedenfalls zu denen unter ihnen, die noch am Leben sind. Lebt wohl, Junge Huldvolle, lebt wohl, Ihr anderen! Euch gebührt ewiger Dank.«
Und mit langsamen Flügelschlägen flog er durch den Dunst davon.
»Tja, das war eine klare Ansage, scheint mir!«, bemerkte Oksa mit rauer Stimme. »Gibst du mir bitte die Phiole, die um deinen Hals hängt, Gus?«
Vorsichtig nahm er seine Kette ab und gab Oksa das winzige Fläschchen.
»Ich glaube, der Rabe hat recht, wir sollten uns beeilen«, sagte Tugdual ernst. »Schaut mal, der Dunst verflüchtigt sich, und dahinter scheint sich etwas zusammenzubrauen!«
Alle sahen sich in dem großen, runden Saal um. Und stellten entsetzt fest, dass Tugdual nicht übertrieben hatte. An den Wänden des Saals hatte sich der Dunst schon verzogen, und an seiner Stelle nahmen Stränge aus dunklem Dampf Gestalt an. Dann war ein grässliches Geschrei zu hören.
»Die Schauerlichen kommen näher«, pflichtete Abakum ihm hastig bei. »Wir müssen uns beeilen!«
»Wie geht dieses verflixte Fläschchen nur auf?«, fragte Oksa hektisch und drehte die spitz zulaufende Phiole in alle Richtungen.
Abakum untersuchte nun seinerseits das Fläschchen, jedoch ohne Erfolg. Währenddessen schien es, als würden die infernalischen Schreie lauter werden.
»Puste mal darauf«, drängte Gus, »vielleicht funktioniert es ja so wie ein Granuk-Spuck.«
Oksa folgte seinem Rat und blies auf die Phiole. Wie durch ein Wunder öffnete sich ein kleiner Verschluss am oberen Ende. Gleichzeitig sprang eine spitze Klinge am anderen Ende heraus.
»Mensch, Gus!«, rief Oksa strahlend. »Du bist einfach genial!«
»Die Komplimente sollten wir besser auf später verschieben«, antwortete der Junge knapp. »Wenn wir dieser Hölle lebend entkommen sind!«
»Schnell, sie kommen!«, warf Pavel ein.
Je näher die Schatten kamen, umso wärmer wurde es. Bald war es unerträglich heiß. Die Schreie wurden noch lauter, und nun konnten alle in dem Dunst bedrohliche Schemen erkennen. Der Schutzschild der Rette-sich-wer-kann schmolz von Sekunde zu Sekunde. Bald würden die Schauerlichen sichtbar werden.
Oksa stach sich als Erste mit der Spitze am Ende der Phiole in den Finger. Als ein Blutstropfen erschien, drückte sie den Schnitt mit aller Kraft zusammen, damit das Blut in das Fläschchen fiel. Sofort nahm die Flüssigkeit darin eine seltsam changierende Farbe an.
»Ihr seid an der Reihe!«, rief Oksa und gab das Fläschchen weiter. »Beeilt euch!«
So schnell es ging, wanderte die Phiole in dem um sich greifenden Chaos von Hand zu Hand, und der Inhalt vermischte sich mit dem Blut der Rette-sich-wer-kann.
»Fertig, Oksa!«, rief Tugdual endlich und hielt das Fläschchen in die Höhe.
Sie nahm es an sich. »Dann geht es los!«
Sobald Oksa den Fuß auf den schmalen Rand des Beckens gesetzt hatte, verschwand das übel riechende Wasser und machte etwas anderem Platz: Eine unförmige Masse erschien, die anschwoll, bis sie das ganze Becken ausfüllte. Lila, fast schwarz geädert pulsierte sie im Rhythmus … eines Herzens! Oksa schluckte.
»Es lebt!«, stammelte sie.
»Natürlich, Kleine Huldvolle!«, sagte Tugdual ungeduldig. »Genauso wie die Schauerlichen, die sich gleich auf uns stürzen werden!«
»Du musst das Herz-Erforsch zerstören, Oksa!«, drängte Pavel sie. »WIRF DIE PHIOLE!«
Der schreckliche Atem der Schauerlichen vertrieb bereits die letzten Wölkchen gelblichen Dunstes. Plötzlich leckte die dunkle Zunge der
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