Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Er wirkte erschöpft von dem langen Weg durch den Wald, eilte jedoch herbei, um Gus in die Arme zu schließen.
Gerührt erwiderte Gus die Umarmung.
»Hallo, Gus!«, erklang eine weitere Stimme, die ihm zwar auch vertraut war, allerdings weniger freudige Gefühle bei ihm auslöste.
»Hallo, Tugdual!«, erwiderte er und zog eine Grimasse. »Du bist also auch mitgekommen?«
»Tugdual!«, rief Oksa mit gespieltem Staunen. »Wie bist du so schnell durchgekommen?«
»Mit links, Kleine Huldvolle!«, erwiderte der junge Mann. »Du weißt ja, es ist alles nur eine Frage des Ziels …«
Oksa überging die Bemerkung und wandte sich wieder Gus zu, der dreinschaute, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen.
»Aber wo sind die anderen?«, fragte sie und blickte sich zum ersten Mal seit ihrem schwungvollen Ausstieg aus dem Wald um.
Die Umgebung hatte sich vollkommen verändert. Mit dem Wald war auch jegliches Grün verschwunden. Stattdessen erstreckten sich nun sanfte, mit dunkelbraunem Heidekraut bedeckte Hügel bis zum Horizont. Der Himmel, von dem sie zwischen den Baumkronen nur Fetzen hatte erhaschen können, leuchtete in herrlichem Blasslila. Eine riesige, verschleierte Sonne sandte bleiche Strahlen aus, die die Landschaft in ein gespenstisches Licht tauchten. Hinter Oksa und Gus tat sich der Eingang zu einer finsteren Höhle auf, die ins Innere der Hügel zu führen schien. Ein Stück entfernt saß Leomido auf einem Felsen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in den Händen. Seine langen silbergrauen Haare hatten sich bei der Durchquerung des Waldes gelöst und hingen ihm ins Gesicht. Eine Frau stand neben ihm: Sie hatte sich über ihn gebeugt und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Mit einer zärtlichen Geste hob sie sein Kinn an und strich mit den Fingerspitzen über sein Gesicht, als wolle sie sich jeden seiner Züge einprägen. Oksa konnte von da, wo sie stand, nur den Rücken der Frau sehen und ihre herrlichen weißen Haare, die zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt waren.
»Ist das Remineszens? … Dann … hat er sie also wiedergefunden!«, murmelte sie.
»Ich stelle euch einander vor«, sagte Gus. »Hier, Oska, nimm mal deine Tasche wieder. Ich glaube, du kannst mehr damit anfangen als ich!«
»Danke, dass du so lange für mich darauf aufgepasst hast«, lächelte Oksa ihn an und hängte sich die kostbare Tasche sofort um.
Dann näherten sie sich den beiden. Oksa sah kurz zu Abakum. Jetzt gerade schien er ihr nicht mehr der mächtige Schattenmann zu sein, der Zauberer in Gestalt eines Hasen, der Feenmann mit den vielen Talenten, sondern nur noch ein ganz normaler alter Mann, der nach langen Jahren der Trennung einen geliebten Menschen wiederfindet. Da wandte Remineszens den Kopf zu ihnen um, und Oksa erblickte das eindrucksvollste Gesicht, das sie je gesehen hatte. Staunend blieb sie stehen. Obwohl die alte Dame die Zwillingsschwester des schrecklichen Orthon war, ähnelte sie ihm kein bisschen. Sie strahlte eine faszinierende Schönheit aus, die einen unweigerlich in ihren Bann schlug. Mit einem offenen Lächeln auf den Lippen kam sie auf die Freunde zu. Es war Abakum, der sie als Erster begrüßte.
»Remineszens«, murmelte er und neigte dabei respektvoll den Kopf.
»Abakum?«
Die Stimme der alten Dame zitterte. Mit der Anmut einer Tänzerin legte sie die paar Schritte zurück, die sie noch von ihm trennten. Ihr fein gemeißeltes Gesicht zeigte kaum Spuren des Alters, ihre Augen leuchteten in einem intensiven Kobaltblau und ließen ihre weiße, seidige Haut noch heller wirken. Sie war groß gewachsen und trug ein schlichtes, fast strenges Kleid aus weichem, grauem Stoff, das ihre schlanke Figur betonte. Als einzigen Schmuck hatte sie eine lange Kette aus winzigen, bernsteinfarben schimmernden Perlen um den Hals geschlungen.
»Abakum«, wiederholte sie mit bebender Stimme. »Wie glücklich ich bin, dich wiederzusehen … nach all den Jahren … Wie kann ich dir nur dafür danken, dass du gekommen bist?«
Sie senkte den Kopf – überwältigt von ihren Gefühlen oder um Abakums durchdringendem Blick auszuweichen –, woraufhin der Feenmann sie bei den Schultern fasste und sie zwang, ihn anzuschauen.
»Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben, dich je wiederzusehen«, flüsterte er kaum hörbar.
Obwohl sich die Begegnung mit vornehmer Zurückhaltung abspielte, war Oksa zutiefst berührt davon. Sie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen.
»Meine Freunde!
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