Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
den Naturkatastrophen mit seiner Familie bewohnt hatte.
Das große, im anglikanischen Stil erbaute Gebäude lag in einem Vorort von London, ein ziemliches Stück vom Bigtoe Square entfernt. Doch die Rette-sich-wer-kann und die Abgewiesenen hatten es schon unter weniger günstigen Voraussetzungen geschafft, einander wiederzufinden, und so würden ein paar Kilometer Distanz sie wohl kaum daran hindern, im Bedarfsfall wieder gemeinsam zur Tat zu schreiten.
Als Andrew jedoch in Begleitung Abakums von seiner Besichtigung zurückkehrte, war allen rasch klar, dass sie sich noch ein wenig würden gedulden müssen.
»Da ist nichts mehr vorhanden«, erzählte Andrew niedergeschlagen. »Die Wasserrohre und die Stromkabel sind herausgerissen worden, all unsere Sachen gestohlen …«
Seine Frau und die Zwillingstöchter waren den Tränen nahe.
»Sogar die Fenster sind entweder ganz herausgeschlagen oder zerbrochen worden«, fuhr Abakum fort. »Es sind nur noch die Mauern und ein Teil des Daches übrig.«
»Es war so ein schönes Haus«, murmelte Galina.
»Aber ihr sitzt ja nicht auf der Straße, das ist das Wichtigste«, merkte Pavel an. »Wir werden eben noch eine Weile zusammenrücken.«
Alle mussten unwillkürlich schmunzeln. Das Bild traf es ziemlich gut, sowohl symbolisch wie auch ganz konkret. Die Solidarität gehörte genauso zu ihrem Alltag wie das morgendliche Gedränge vor den beiden winzigen Badezimmern und die Enge in den Schlafzimmern.
Die Schlafzimmer …
Ein heikles Thema, vor allem für Oksa, die als Einzelkind seit jeher an ihre Privatsphäre gewöhnt war. Und nun stapelten sich in dem Zimmer, in dem sie ihre ersten magischen Fähigkeiten entdeckt hatte, die Betten und Habseligkeiten der fabelhaften Fünf. Dieses enge Zusammenleben beschränkte sich glücklicherweise auf die Schlafenszeit, denn die Beziehung zwischen der Jungen Huldvollen und der Eiskönigin ließ trotz eines vorübergehenden Waffenstillstands nicht gerade auf dauerhaften Frieden hoffen. Dennoch, Oksa war der Meinung, reifer geworden zu sein – und so viel vernünftiger! Wobei der einzige sichtbare Ausdruck ihrer neu gewonnenen »Weisheit« darin bestand, dass sie Kukka möglichst aus dem Weg ging. Das Zusammenleben unter den gegebenen Umständen konnte nämlich unerträglich werden, wenn man nicht bereit war, Zugeständnisse zu machen.
»Ich kann sie einfach nicht ausstehen«, murmelte Oksa vor sich hin.
Ihre schiefergrauen Augen wurden fast schwarz, als sie auf Kukka ruhten, die auf ihrem Feldbett saß und ihre langen Haare entwirrte.
Zoé waren Oksas Worte und ihre Blickrichtung nicht entgangen.
»Weißt du wenigstens, warum?«, fragte sie flüsternd.
Oksa schwieg verdutzt.
»Sag bloß nicht, es ist immer noch wegen Gus«, fuhr Zoé fort, nachdem Kukka aus dem Zimmer gegangen war.
Oksa drehte sich im Bett um und kehrte ihrer Freundin den Rücken zu.
»Ach, Oksa … Gus war vielleicht einmal für kurze Zeit in Kukka verschossen, aber das ist doch verständlich, oder? Sie ist wirklich hübsch – und nicht so dumm, wie du denkst –, und er muss sich sehr einsam gefühlt haben, während wir in Edefia waren. Aber sei mal ehrlich, es ist doch gar nicht, weil du Kukka nicht leiden kannst. Du würdest genauso reagieren, wenn ich es wäre oder irgendjemand anders.«
»Nein!«, rief Oksa empört und drehte sich wieder zu Zoé um. »Wenn du es wärst, würde ich mich für euch beide freuen!«
»Oksa, bitte …«, sagte Zoé gequält.
Die Junge Huldvolle wurde rot vor Scham. Sie legte Zoé die Hand auf die Schulter und drückte sie fest, wagte dabei aber kaum, ihr in die Augen zu sehen.
»Es tut mir leid, das war wirklich absolut gedankenlos von mir.«
Zoé tat es mit einer Geste ab und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Du weißt ganz genau, dass Gus nie ernsthaft in Kukka verliebt war.«
Oksa zuckte demonstrativ mit den Schultern. »Warum lässt er es dann zu, dass sie die ganze Zeit an ihm klebt?«, brummte sie. »Das muss einen ja irgendwann verletzen …«
»Verletzen? So schlimm?«
Oksa holte tief Luft.
»Aber du wirst mir doch nicht weismachen wollen, dass du ihm deshalb böse bist?«, fragte Zoé weiter. »In dem Fall solltest du nämlich so ehrlich sein und zugeben, dass er genauso viel Grund hätte, dir böse zu sein.«
Oksa setzte sich abrupt auf und schaute Zoé geradewegs an.
»Du weißt genau, dass er
dich
liebt«, fuhr Zoé unbeirrt fort.
Oksa schlug die Augen nieder und bohrte mit dem Finger ein Loch in
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