Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
Video, Zoé.«
Zoé kam der Bitte nach. Wieso auch nicht? Es war ja ohnehin zu spät. Sie klickte das offen gebliebene Fenster an und ließ das Video weiterlaufen. Die Bilder sprangen ihnen regelrecht in die Augen. Kalkweiß kam Kukka näher. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, fühlte Oksa sich ihr nahe, oder besser gesagt, sie konnte ihre Verblüffung und ihren Schrecken nachempfinden.
Wortlos sahen sie sich das Video bis zum Schluss an. Dann stieß Kukka auf Finnisch einen Fluch aus. Oksas Lider bebten.
Die Melodie war rhythmisch und intensiv, betörend. Die Stimme des Sängers war leidenschaftlich und besaß eine magnetische Anziehungskraft. Sein Gesicht war verschlossen, sein Blick eisblau, seine Haltung völlig entrückt.
Irgendwo war er. Nirgendwo. Ganz woanders.
Nur seine Hände auf dem Klavier schienen etwas ausdrücken zu wollen, doch was genau, blieb völlig unklar. Die Kamera kreiste um ihn herum, immer wieder sahen sie Nahaufnahmen seiner Augen oder seiner Hände im Wechsel mit Aufnahmen seiner schlaksigen Figur und Bildern der übrigen Mitglieder seiner Band namens
New Hope
. Alles schien darauf angelegt, diejenigen, die sich dieses mysteriöse Video ansahen, in ihren Bann zu ziehen. Denn der Text – die banale Geschichte eines Jungen, der ein Mädchen liebt, das einen anderen liebt – war nicht so fesselnd wie die Melodie und die Bilder, die sich dem Bewusstsein auf unheimliche Weise einprägten und eine Empfindung auslösten, gegen die man sich nicht zur Wehr setzen konnte.
Zehn, zwanzig, fünfzig Mal sah Oksa sich das Video an. Es gelang ihr nicht, sich davon loszureißen. Auch den anderen ging es so. Bei denen, die den Sänger kannten, war dieses Bedürfnis vielleicht verständlich, doch auf Niall traf das nicht zu. Dennoch war er ebenfalls von dem Lied gefesselt. Und das erregte schließlich seinen Verdacht.
»Da stimmt was nicht, das ist nicht normal«, murmelte er.
Der Zähler unter dem Videoclip, der anzeigte, wie oft es aufgerufen worden war, schien fast durchzudrehen. Niall setzte sich an einen anderen Computer und tippte in Windeseile etwas in die Tastatur. »Das ist der Hit des Jahrhunderts!«
Zoé riss sich mühsam vom Bildschirm los. »Was willst du damit sagen?«
»Guckt euch das doch an! Unglaublich!«
Gespannt wandten sich die anderen Niall zu. Die sozialen Netzwerke ließen das Video in einer Endlosschleife in den Werbebannern laufen, und die wichtigsten Webseiten der ganzen Welt, egal, ob kommerziell, informativ oder rein unterhaltsam, zeigten es plötzlich alle auf ihrer Startseite.
»Und am bemerkenswertesten ist, dass man die Intro nicht einfach überspringt, sondern sie bis zum Schluss ansieht. Man kann sich dem Clip einfach nicht entziehen.«
»Vielleicht liegt das daran, dass wir jung sind und auf solche Lieder stehen«, meinte Zoé. »Es ist doch auch wirklich gut, oder? Das Thema und der Text sind nicht besonders originell, aber es kommt an. Und das genügt bei einer solchen Melodie, um Tausende von Teenies auf der ganzen Welt zu fesseln.«
»Willst du damit sagen, dass das eine Frage des Alters ist? Dann wäre das Lied also maßgeschneidert für uns? Kann sein … Wir brauchen es ja bloß auszuprobieren«, schlug Mortimer vor.
Abakum, Pavel, Marie, Andrew … Alle Erwachsenen reagierten auf dieselbe Weise: Das Lied blieb ihnen – außer, dass sie Tugduals Stimme erkannten – gleichgültig, solange sie es nur hörten. Doch sobald sie den Videoclip sahen, änderte sich ihre Haltung schlagartig. Sie wurden so süchtig danach wie die Jugendlichen und sahen es sich immer wieder an.
Nach einer Weile ließ Oksa sich blass und erschöpft auf einen Stuhl fallen. Alle sahen verstohlen zu ihr hin. In dem Video kam der Sänger sagenhaft gut zur Geltung. Es ließ sich nicht leugnen, dass die charismatische Rolle des Leadsängers einer Rockband sehr gut zu ihm passte.
»Der Typ hat zweifellos eine enorme Anziehungskraft«, sagte Niall, »aber ich glaube nicht, dass das alles ist. Es steckt noch was anderes dahinter.«
Auf dem Computer von Zoé war das Video gerade zum dreiundsechzigsten Mal in Folge gelaufen. Sie stellte das Gerät aus, und erst jetzt fiel allen auf, dass es mittlerweile dunkel geworden war und keiner von ihnen daran gedacht hatte, das Licht einzuschalten.
»Ihr scheint den Sänger ziemlich gut zu kennen«, sagte der junge Hacker. »Wer ist das eigentlich?«
»Er heißt Tugdual«, antwortete Zoé. »Tugdual Knut. Oder besser gesagt Tugdual
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