Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
versehentlich mit »Mama« angesprochen. Das war ihm einfach so herausgerutscht. Verwirrt hatte er sich auf die Lippen gebissen. Marie hingegen hatte es entweder nicht gehört oder sich nichts anmerken lassen.
Dann waren die Rette-sich-wer-kann zurückgekehrt. Oksa hatte ihre Mutter wieder und Gus seine Oksa. Auch sie hatte sich sehr verändert. Sie war stärker und entschlossener geworden, aber immer noch genauso impulsiv.
Und sie war noch hübscher geworden.
Als sie das Haus wieder einigermaßen in Ordnung gebracht hatten, richteten die fabelhaften Fünf ihr Hauptquartier dort ein, wo sie die beste Internetverbindung hatten: in dem geräumigen Zwischengeschoss, das Abakum in seinem alten Gewächshaus eingezogen hatte.
Letzteres war sehr viel spärlicher bevölkert als bei Oksas erstem Besuch, aber es ging dennoch lebhaft zu. Der lange Aufenthalt in Abakums Boximinor hatte die Pflanzen ziemlich frustriert, und es war eine enorme Befreiung für sie, wieder ihre alte Größe annehmen zu dürfen. Im Nu verfielen sie in ihre alten Gewohnheiten, sich ständig zu zanken, von allen in ihrer Nähe Zuneigung einzufordern und auf allerlei Art und Weise einen Heidenlärm zu veranstalten.
An diesem Tag durchsuchten die jungen Internauten das Netz nach neuen Informationen. Endlich zeichnete sich ein Bild ab, ihnen fehlte nur noch die Bestätigung.
Gus ließ den Blick unauffällig zu Oksa schweifen, wie er es mindestens zehnmal am Tag machte. Sie arbeitete konzentriert an ihrem Bildschirm, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und zupfte einen Augenblick an ihrem Ohrläppchen – vor ein paar Tagen hatte Gus gemerkt, wie sehr es ihm gefiel, wenn sie das tat. Genauso wie er die kleine Falte über ihrer Nasenwurzel mochte, wenn sie angestrengt nachdachte, die Grübchen in ihren Wangen, wenn sie sich über etwas amüsierte, ihr Mund, den sie leicht verzog, wenn sie an den Nägeln kaute, ihr Lachen, wenn der Kapiernix sie fragte, wer sie war, ihr gespieltes Seufzen, wenn die Sensibyllen sich über die Temperatur beklagten …
Gab es überhaupt etwas an Oksa, das ihm nicht gefiel?, fragte er sich.
Nichts.
Er mochte alles an ihr.
Sogar ihre Sticheleien, ihre Empfindlichkeit, ihre Wutausbrüche.
Alles mochte er, außer ihrer völlig unverständlichen Zuneigung zu diesem durchgeknallten Grufti. Insgeheim freute er sich sogar über Tugduals Verrat, konnte es jedoch nicht offen zeigen. Die Angelegenheit hatte die ganze Gruppe mitgenommen, Oksa ganz besonders, und es schmerzte ihn zu sehen, wie sehr sie darunter litt. Dennoch empfand er im tiefsten Inneren eine enorme Befriedigung. Es hatte also doch seine Berechtigung, dass er diesen Typen niemals hatte ausstehen können. Gus war zwar der festen Überzeugung, dass Oksa sich noch nicht ganz von ihm gelöst hatte – was ihn fast in den Wahnsinn trieb –, doch gleichzeitig war er sich sicher, dass Tugdual kein ernsthafter Rivale mehr für ihn war. Und das war schon mal etwas.
Als Oksa zu ihm aufblickte und ihn sozusagen in flagranti ertappte, zuckte er zusammen.
»He! Was machst du denn?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Ein bisschen vor dich hin träumen?«
»So könnte man es nennen«, antwortete er und hielt ihrem Blick stand.
Oksa holte tief Luft und drehte ihren Stuhl herum, damit sie ihn besser sehen konnte.
»Ach, Gus, du Ärmster, dir ist wirklich nicht zu helfen!«
»Das, meine liebe Oksa, du Ärmste, könnte man genauso gut von dir sagen«, erwiderte er und streckte sich. »Du kennst mich schon so lange, da müsstest du doch langsam wissen, dass ich ein Denker durch und durch bin.«
Oksa lachte.
»Ein Denker! Na, so was! Du traust dich was!«
Sie blieben einen Moment reglos sitzen und sahen sich in die Augen, hin- und hergerissen zwischen Ernst und Belustigung. Vor ein paar Jahren, als sie noch Kinder gewesen waren, hatten sie dieses Spiel gespielt, sich so lange in die Augen zu sehen, bis einer von ihnen sich geschlagen gab und lachend den Blick senkte. Gus hatte immer gewonnen, denn Oksa konnte sich nie länger als eine halbe Minute konzentrieren. Aber seit damals hatte sie einiges dazugelernt … Jetzt war sie ein ernst zu nehmender Gegner und hätte ihm stundenlang standhalten können.
»Schade, dass wir das nicht mehr spielen, jetzt würdest du haushoch gewinnen«, flüsterte Gus und schob seinen Stuhl ein kleines Stück zurück.
»Was hast du gesagt?«
»Dass wir uns an die Arbeit machen sollten!«
»Ein Denker und dazu auch noch so gewissenhaft!
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