Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
Milde meiner Huldvollen begegnet keinerlei Grenzen.«
»Denn in den Menschen, den Von-Drinnen wie den Von-Draußen, ist Gutes und Böses …«,
sagte nun Oksa, indem sie einen Teil des Eides der Huldvollen zitierte.
Der Plemplem stimmte ihr zu. Dabei nickte er so ungestüm mit dem großen, kugelrunden Kopf, dass er fast das Gleichgewicht verlor.
»So, ich glaube, jetzt sehen wir gleich klarer!«, verkündete Niall plötzlich. »Kommt mal her.«
Nialls und Gus’ Bemühungen hatten Früchte getragen. Wenn man das Video in Zeitlupe abspielte, ein Bild nach dem anderen, merkte man, dass sich in der ersten Hälfte eine Botschaft versteckte: Die wichtigsten Staatschefs der Welt wurden mit den schlimmsten Kalamitäten in Verbindung gebracht, und – was besonders hinterhältig war – mit den jüngsten Naturkatastrophen, welche die Welt an den Rand des Abgrunds getrieben hatten. Zwischen zwei Aufnahmen der Bandmusiker sah man, nicht einmal eine Zwanzigstelsekunde lang, ein Bild des französischen Präsidenten, gefolgt von einer Aufnahme von Ruinen. Kurz darauf wurde der amerikanische Präsident mit Bildern von leidenden Menschen in Beziehung gesetzt: Ihre Haut war entstellt, und aus ihren Blicken sprachen Schmerz und Qual.
»Wahnsinn, keiner der großen Staatschefs ist verschont geblieben«, bemerkte Oksa. »Alle werden mit Bildern von Stadtguerillas, Gewalttaten oder Krankheiten in Verbindung gebracht, dass einem angst und bange werden kann.«
»Vor allem bekommen die Menschen dadurch eine Stinkwut auf diejenigen, die eigentlich für das Wohl und die Sicherheit der Allgemeinheit zuständig sind«, fügte Pavel hinzu.
»Man versucht uns also beizubringen, dass man ihnen nicht vertrauen sollte«, sagte Oksa.
»Oder noch schlimmer: dass man ihnen nicht vertrauen
darf
«, korrigierte Zoé.
»Genau!«, bestätigte Niall. »Aber in der zweiten Hälfte des Videos wird eine andere Botschaft vermittelt. Seht mal.«
Die Bilder von Tugduals Händen, die elegant über die Tasten glitten, seine eisblau schimmernden Augen, seine dunkle Gestalt – diese Aufnahmen waren mit Bildern unterlegt, die ganz und gar nichts Negatives hatten. Es waren flüchtige, aber strahlende Bilder, und sie stellten glückliche Menschen in einer schönen Umgebung dar, eine friedliche, heile Welt, sauber, fruchtbar, ideal. Als schließlich Orthons Gesicht auftauchte, erst nur ganz vereinzelt, dann immer häufiger, wunderte sich niemand mehr darüber.
»Aber es gibt nicht nur unterschwellige Bilder«, erklärte Niall. »Auch der Text ist suggestiv. Hört gut zu, der Gesang wechselt zwischen
Hold On
und dem Bild von Orthon ab. Das ist ganz subtil, unbewusst assoziiert man Durchhaltevermögen mit dem Anblick dieses Mannes.«
»Was für eine Dreistigkeit!«, rief Oksa, nachdem sie das letzte Bild des Treubrüchigen gesehen hatte, auf dem er die Hände offen vor sich ausstreckte. »Er hält sich wohl wirklich für den Messias!«
»Das ist jedenfalls die Botschaft, die er vermitteln möchte«, stimmte Abakum ihr zu. »Und diese Botschaft verbreitet sich gerade mit rasender Geschwindigkeit um den Erdball!«
Eine steile Falte stand zwischen seinen grauen Augen, und seine Lippen zitterten vor unterdrückter Wut. Was erstaunlich war, denn der Feenmann hatte seine Gefühle sonst sehr gut unter Kontrolle.
»Indem er einen so charismatischen jungen Mann wie Tugdual für seine Zwecke missbraucht, zieht er die Jugend der ganzen Welt auf seine Seite«, fügte er bitter hinzu.
Oksa sank in sich zusammen, sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen oder ihre Wut laut herauszuschreien. Marie humpelte, auf ihren Stock gestützt, zu ihrer Tochter. Mit der freien Hand strich sie ihr über die Haare.
Oksa ballte die Fäuste.
»Das muss ein Ende haben«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Wir müssen Orthon finden.«
Marie zog Oksas Kopf an ihre Schulter und drückte sie an sich.
»Wir finden ihn, mein Schatz. Ganz bestimmt.«
Über die Schulter ihrer Mutter hinweg begegnete Oksa Gus’ betroffenem Blick. Dieser neue Schlag, den Orthon ihnen zugefügt hatte, traf alle. Ausnahmslos.
Eines Nachts, in der Kälte
E in junges Pärchen eilte durch die verlassenen Straßen. Der Winter neigte sich dem Ende zu, doch es war noch kalt. Der Junge nahm das Mädchen in den Arm, sie schmiegte sich eng an ihn. Bald hatten sie ihre Schritte aufeinander abgestimmt und bogen in eine schmale Gasse ein. Hier war es ziemlich finster, doch sie hatten es nicht mehr weit bis nach
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