Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
im Dunkeln zu tappen.«
Er wandte sich an Zoé, die ihren Arm direkt neben den von Niall gelegt hatte, sodass sie einander berührten, wann immer Niall seine Maus bewegte.
»Du lagst völlig richtig, Zoé«, sagte der Feenmann zu ihr.
»Womit?«
»Damit, dass die Dinge, die uns vielleicht momentan sinnlos erscheinen, nie umsonst sind, sondern sich irgendwann auszahlen.«
Niall schaute Zoé bewundernd an. Die blickte weiterhin stur auf den Bildschirm, doch der Hauch eines Lächelns spielte um ihre Lippen, und alle waren gerührt von dem, was sich zwischen den beiden abspielte. Zoé mochte ihrer Fähigkeit, zu lieben, beraubt worden sein, doch wie jeder andere Mensch sehnte sie sich danach, geliebt zu werden.
»Alles okay, Oksa? Du wirkst so …«
Oksa schreckte hoch. Sie ging vom Fenster weg, setzte sich im Schneidersitz aufs Bett und stützte das Kinn auf die Fäuste. Zoé lehnte sich ans Fenster und wartete.
»Das kommt dir jetzt vielleicht komisch vor«, murmelte Oksa, »aber … ich frage mich einfach, ob Tugdual sich eigentlich darüber im Klaren ist, was mit ihm passiert ist. Er war doch sonst immer so scharfsinnig! Leidet er darunter, dass er nichts gegen Orthon ausrichten kann? Ehrlich, Zoé, das macht mich fix und fertig.«
»Hast du dich nie gefragt, ob er sich nicht womöglich ganz wohlfühlt bei Orthon? Dass das der richtige Platz für ihn ist?«
»Zoé! Wie … wie kannst du so etwas sagen?«, fragte Oksa entsetzt.
Man hätte Zoé Grausamkeit unterstellen können, doch ihr beiläufiges Achselzucken verriet etwas anderes.
»Du weißt genau, dass die Dinge nie einfach nur schwarz oder weiß sind«, sagte sie. »Tugdual ist bestimmt an sich kein schlechter Mensch, und sein Herz mag ja irgendwie rein sein, wie es dein Plemplem ausdrückt. Aber das heißt nicht, dass ihn nicht vielleicht der dunkle Weg am meisten lockt. Und das wäre ja nicht das erste Mal bei ihm.«
Oksa wusste nicht, ob sie wegrennen oder laut schreien sollte.
»Schau mal, du hast den Weg des Guten gewählt, und trotzdem bist du bereit, etwas Schlimmes zu tun, um dein Ziel zu erreichen«, fuhr Zoé fort. »Damit will ich bloß sagen, dass …«
Sie zögerte einen Augenblick, als sie Oksas betroffene Miene sah, entschloss sich dann aber weiterzureden.
»Dein Herz ist rein, aber das hat dich nicht davon abgehalten, Menschen Schmerzen zuzufügen und sogar ein lebendes Wesen zu töten …«
Wie so oft klaffte ein Abgrund zwischen Zoés scheinbarer Sanftmut und ihren offenen, schonungslosen Worten.
»Tugdual wird von Orthon manipuliert«, wandte Oksa gequält ein. »Er hat keine Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl, Oksa.«
Wie ein Henker in Engelsgestalt ließ Zoé das Fallbeil niedersausen: Sie servierte Oksa die ungeschminkte Wahrheit, und das völlig schonungslos.
Unglücklich blickte diese zu ihrer Freundin, und plötzlich wurde ihr etwas klar: Während sie selbst jeden als Opfer seines Schicksals sah, waren für Zoé die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung das Wesentliche im Leben.
Hatte sich Zoés Großmutter Remineszens etwa von ihrem schrecklichen Vater Ocious und ihrem psychopathischen Zwillingsbruder Orthon beherrschen lassen?
Nein. Sie war geflohen.
Sie hatte ihre Wahl getroffen. Obwohl es ihr viel Leid eingebracht hatte. Obwohl sie bis heute die Konsequenzen tragen musste.
Und Mortimer und Zoé? Auch sie hatten unter Orthons fürchterlicher Bevormundung gestanden. Und doch hatten beide es geschafft, sich davon zu lösen – Mortimer sogar von seinem eigenen Vater.
Oksa schloss die Augen und ließ den Kopf auf die Brust sinken.
Tugdual. Orthon. Die Manipulation war zu offensichtlich, als dass man sie hätte leugnen können. Aber reichte das aus, um alles zu erklären? Konnte man damit alles entschuldigen? Oder war es nicht doch … ein Vorwand?
Die Junge Huldvolle seufzte. Zoé mochte vielleicht nicht hundertprozentig richtigliegen, aber ganz falsch lag sie mit ihrer Vermutung bestimmt auch nicht.
Annäherungen
O ksa ließ die letzten Töne des Songs verklingen und schaltete den Computer ab. Es war spät, alle waren bereits in ihren Zimmern verschwunden, im Silo schnarchten die Pflanzen leise vor sich hin.
Die Junge Huldvolle verschränkte die Hände hinterm Kopf und ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. Ihre Augen brannten ein wenig, sie war müde, verspürte jedoch nicht die geringste Lust zu schlafen. Zwei Stunden zuvor hatte Gus sie im Schatten der großen Blätter der Centaurea erneut
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