Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
Stück unterhalb fliegen sahen, nahmen die Rette-sich-wer-kann ihre ganze Kraft zusammen und richteten sich so stromlinienförmig wie möglich aus.
»Los, schneller«, rief Oksa. »Gleich haben wir ihn!«
Schließlich spuckte der Tornado die Eindringlinge in einer Wolke aus Staub und Salzwasser über der Küste aus, über die er eben hinweggefegt war. Durchgeschüttelt, wie sie waren, erwartete sie nun noch eine böse Überraschung: Sie fielen quasi vor aller Augen vom Himmel! Angelockt vom Heulen der Sirenen standen Dutzende von Leuten am Ufer und schauten völlig erschüttert auf die sechs Menschen, die da in einer unwirklich anmutenden Verfolgungsjagd übers Wasser flogen.
Dann war es also wahr, was in den Medien verbreitet wurde: Es gab tatsächlich Außerirdische mit übernatürlichen Fähigkeiten!
Den Rette-sich-wer-kann wurde angst und bange. All die Jahre hatten sie sich angestrengt, ihre Andersartigkeit geheim zu halten, und nun hatten sie sich im Verlauf weniger Stunden gleich zweimal in Situationen begeben, die schlimmste Folgen für sie haben konnten.
Ein Schuss krachte und bestätigte ihre Befürchtungen. Da die Gefahr, die ihnen von menschlicher Seite drohte, jetzt im Vordergrund stand, steuerten die Rette-sich-wer-kann wieder auf die Wolken zu. Orthon hingegen ließ völlig skrupellos einen Hagel von Säuregranuks auf die Erde niedergehen. Die Explosionen lösten eine Panik aus – sein Ablenkungsmanöver gelang.
»Dort entlang!«, schrie Abakum.
Da sie nun wieder außer Sichtweite der Küste waren, machten sich die Rette-sich-wer-kann erneut an die Verfolgung des Treubrüchigen. Sie kreuzten eine Weile in alle Himmelsrichtungen, doch weder Oksas Wackelkrakeel noch einer von ihnen konnte sagen, wohin ihr Erzfeind verschwunden war. Bitter enttäuscht landeten sie schließlich auf einem verlassenen Kliff.
»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, dich in diesen Tornado zu stürzen?«, donnerte Pavel los, kaum dass er festen Boden unter den Füßen hatte. »Um ein Haar wären wir alle umgekommen!«
Überrascht blickte Oksa ihn an. Er schien erschöpft und vor allem stinkwütend zu sein. Hinter ihm stand Abakum mit gekrümmtem Rücken und geschlossenen Augen da. Zoé war in die Hocke gegangen. Mortimer stand ebenfalls vornübergebeugt, die Hände auf die Schenkel gestützt. Alle waren vollkommen fertig. Oksa verspürte dagegen bloß eine immense Frustration und Wut.
»Wir müssen doch alles versuchen, um ihn zu kriegen!«, schleuderte sie ihrem Vater entgegen.
»Ja, Oksa, aber doch nicht um jeden Preis«, wandte Pavel etwas ruhiger ein.
»Doch, und ob!«, rief Oksa aufgebracht. »Siehst du denn nicht, was aus ihm geworden ist? Was er in Castelac angerichtet hat? Er stürzt alles ins Chaos, Papa, und wenn
wir
ihn nicht aufhalten, wer dann?«
»Sie hat recht«, warf Abakum ein, ohne sich umzudrehen.
Pavel trat gegen die verwelkten Grasbüschel.
»Das weiß ich auch, dass sie recht hat«, brummte er. »Aber wenn wir umsonst solche Risiken eingehen, macht mich das einfach nur rasend.«
»Es ist nie etwas umsonst«, mischte sich auf einmal Zoé ein. »Selbst wenn man im Augenblick nicht sieht, wozu es gut ist – irgendwann zeigt es sich.«
Mortimer nickte schweigend, während die beiden Männer sie erstaunt ansahen. Oksa versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen – Zoé war ohne Frage ihre treueste Verbündete.
»Immerhin waren wir Orthon dicht auf den Fersen«, bekräftigte die Junge Huldvolle noch einmal. »Und auch wenn wir ihn aus den Augen verloren haben, sind wir seinem Schlupfwinkel bestimmt ein Stück näher gekommen.«
Sie kramte in ihrer Umhängetasche.
»Wackelkrakeel, sag uns, wo wir sind.«
Das kleine Geschöpf zitterte vor Kälte, kam der Aufforderung jedoch ohne Zögern nach und sprudelte los: »Wir befinden uns gegenwärtig in Grönland, elf Kilometer nördlich von Tasiilaq, fünfundsechzig Grad nördliche Breite, siebenunddreißig Grad westliche Länge. Die Temperatur beträgt minus sieben Grad Celsius.«
Oksa brach in hysterisches Gelächter aus. »In Grönland? Wir sind bis nach Grönland vertikaliert?«
Sie versuchte, mit dem Lachen aufzuhören, doch es ging einfach nicht. Sie krümmte sich, rang japsend nach Luft, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Ihre Reisegefährten beobachteten sie völlig verdutzt, bis sich schließlich die Züge des Feenmannes entspannten und er in ihr wildes Lachen einstimmte.
»In Grönland!«, platzte Oksa heraus.
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