Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
sie hatte das Gefühl, zu ersticken.
Dennoch spürte sie, dass sie jetzt unbedingt auf ihr Gewissen hören musste – sogar auf die Gefahr hin, zu ertrinken.
Im Schein der Phosphorille auf ihrer Schulter erblickte sie einen Jungen, der Merlin ähnelte, und schoss auf ihn zu. Als sie näher kam, fiel ihr auf, dass ein Mädchen seine Hand hielt. Sie brachte es nicht übers Herz, die beiden zu trennen, ergriff jeden von ihnen mit einer Hand und stieß sich kraftvoll nach oben.
»Hilfe!«, brüllte sie, als sie aus dem aufgewühlten Wasser auftauchte. Mit einem Flügelschlag war Pavels Tintendrache bei ihr und hob Oksa mitsamt ihrer Last in die Höhe. Ihr blieb gerade noch Zeit zu sehen, wie sich Militärlaster und Armeehubschrauber dem Ufer näherten. Sie mussten sich jetzt dringend aus dem Staub machen. Am Ufer angelangt, ließ sie den Jungen und seine Freundin ohne Umschweife los, nahm ihre letzten Kräfte zusammen und stieg auf in den mondlosen Himmel.
Großer Jubel
Ü ber der Irmingersee graute gerade der Morgen, als Gregors Stimme durch die Lautsprecher tönte. Er forderte die Mitglieder der Oktopusgruppe auf, sich umgehend in den großen Saal im dritten Stock zu begeben. Gehorsam standen sie auf, zogen ihre vorgeschriebene Einheitskleidung an und gesellten sich zur Gruppe der Aale, die sich dort bereits eingefunden hatte.
Eine Leinwand wurde von der Decke herabgelassen, Bilder erschienen. Fasziniert verfolgten die Anwesenden das, was an den Niagarafällen geschehen war. Die Aale waren sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Nach der letzten Aufnahme – Hubschrauber, die am Nachthimmel verschwanden – applaudierten alle, einige stießen sogar laute Rufe aus oder pfiffen auf den Fingern.
Dann betrat Orthon in Begleitung seiner Söhne den Saal, und der Begeisterungssturm schwoll weiter an, bis der Treubrüchige die Hand hob und um Ruhe bat. Innerhalb weniger Sekunden war es wieder still, und alle senkten ehrfürchtig die Köpfe.
»Gute Arbeit, nicht wahr?«, fragte der Meister.
Zustimmendes Raunen erklang.
»Mein großartiges Vorhaben, eine neue Welt zu erschaffen, nimmt allmählich Formen an«, fuhr er fort. »Und ihr seid die Pioniere, die Gründungsmitglieder, die sich auf den Gebieten hervortun, auf denen sie am besten sind. Die neue Welt wird eine Elitewelt sein. Egal, was die Gutmenschen dazu sagen: Wir sind zu viele hier, und nicht jeder von uns hat einen Platz auf der Erde verdient. Wozu sollten wir uns also mit Menschen belasten, die zu nichts nütze sind?«
Er wartete einen Augenblick, bis seine Zuhörer diese Worte verdaut hatten, und fuhr dann fort: »Einige Leute haben das bereits begriffen und sich meinem Vorhaben angeschlossen. Brillante Männer und Frauen, die nur darauf gewartet haben, dass ihnen jemand den Weg weist, ein Mentor, der aufzeigt, dass die größte Utopie Realität werden kann. Genau wie ich, genau wie Sie, wissen diese Menschen, dass die Zivilisation auf ihren Untergang zusteuert. Das alte Europa, Amerika, die Schwellenländer – sie alle ersticken an ihren guten Absichten. Es ist Zeit für mich, mit den neuen Verbündeten an meiner Seite die Dinge in die Hand zu nehmen.«
Auf der Leinwand erschienen die Porträts einiger Männer, die als die mächtigsten Politiker, Banker und Industriellen der Welt galten. Doch es war unübersehbar, dass gewisse Personen in dieser beeindruckenden Bildergalerie fehlten, vor allem die Staatschefs der Länder, die in der Weltpolitik eine führende Rolle spielten.
Orthon beantwortete die Frage, die niemand zu stellen wagte: »Die Operationen ›Liebespest‹ und ›Konzert des Jahrhunderts‹ dienten dem Zweck, diejenigen, die immer noch daran zweifeln, welch außerordentliche Chance ich der Menschheit biete, zu überzeugen. Sie sind blind, eitel und arrogant und hatten eine Lektion verdient.«
In seiner Stimme schwang eine solche kalte Wut mit, dass selbst seinen treuesten Anhängern ein Schauder über den Rücken lief – jemand, der, ohne mit der Wimper zu zucken, den Tod mehrerer Tausend Unschuldiger in Kauf nahm, flößte einem nun mal einen gewissen … Respekt ein! Doch Orthons Gesichtsausdruck veränderte sich schon wieder: Der Groll wich einem Ausdruck von Triumph, der kaum weniger zum Fürchten war.
In seiner üblichen selbstgefälligen Art fuhr er fort: »Wir haben sagenhafte Trümpfe in der Hand, um unsere Widersacher dazu zu bringen, sich uns anzuschließen. Unsere Herrschaft über den Weltmarkt und die einzigartigen
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