Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
starben die Heuschrecken dann. Auch die Jugendlichen hatten anscheinend jeden Bezug zur Realität verloren.
Oksa sprang als Erste ins Wasser.
Natürlich war es eisig, doch das Adrenalin, das durch ihre Adern floss, ließ sie die Kälte sofort vergessen. Schlimmer als die Temperatur des Wassers war die ungeheure Wucht, mit der es herabstürzte – über zweitausendachthundert Kubikmeter pro Sekunde, wie Gus ihr vor ihrem Aufbruch erzählt hatte. An ihn zu denken, verlieh ihr so viel Kraft, dass sie sich nahezu unbesiegbar fühlte.
Unter Wasser war es stockfinster, ständig stieß sie gegen etwas, vermutlich Menschen. Mithilfe einer Phosphorille vergewisserte sich Oksa, dass sie sich tatsächlich inmitten Hunderter von Jugendlichen abstrampelte. Jugendliche, die noch wenige Sekunden zuvor an den Lippen ihres Idols gehangen hatten. Und dann hatte ihr Idol sie dazu angestiftet, sich in den Tod zu stürzen.
Blindlings griff Oksa zu: Sie erwischte ein junges Mädchen mit langen schwarzen Haaren – und nahm all ihre Kraft zusammen, um es aus dem Wasser zu holen. Auf der kanadischen Seite waren die meisten Scheinwerfer von den Jugendlichen auf dem Weg ins Wasser umgerissen worden. Trotzdem konnte Oksa die Männer in Schwarz erkennen. Sie standen in einer langen Reihe da, aggressiv wie eine Meute Rottweiler. Etwas weiter weg entdeckte sie den Mann, der für die ganze Tragödie verantwortlich war – kerzengerade stand er da, mit hoch erhobenem Kopf.
Orthon. Stolz und trunken vor Selbstherrlichkeit.
Sie vertikalierte auf die amerikanische Seite, wo sie das arme Mädchen ablegte. Dann nahm sie einen Aquapnoe-Befähiger und sprang wieder ins Wasser.
Mortimer und Zoé folgten Oksas Beispiel und fischten ebenfalls Jugendliche vom Grund der Niagarafälle. Abakum half ihnen, so gut er konnte. Er lag bäuchlings am Ufer und streckte seine Teleskoparme in die Tiefe, um alle, an die er herankommen konnte, wieder an Land zu ziehen. Pavel hatte sämtliche Bedenken zur Seite geschoben und seinen Tintendrachen entfaltet. Was blieb ihm auch anderes übrig? Was spielte angesichts dieses Dramas die Gefahr, entdeckt zu werden, für eine Rolle? Mit seinen großen Flügeln, den langen Krallen und den enormen Kräften erwies er sich denn auch als unschätzbare Hilfe, um in letzter Minute noch viele Leben zu retten. Und das war das Einzige, was zählte.
Durch die unerklärliche Unterbrechung aller Live-Übertragungen des Konzerts samt seinem tragischen Ende war der Rettungsdienst alarmiert worden. Nun rasten aus den umliegenden Städten lange Kolonnen von Krankenwagen herbei. Überall sah man ihre Blaulichter, Sirenen heulten in der pechschwarzen Nacht.
Zur selben Zeit landeten Orthons Helikopter vor der Konzertbühne. Die Männer in Schwarz stiegen ein. Zurück blieben die vier überlebenden Bandmitglieder und die mundtot gemachten Journalisten. Als Pavel sah, dass sein Erzfeind sich aus dem Staub machen wollte, stieß sein Tintendrache einen furchterregenden Schrei aus und spuckte voller Hass eine lange Flamme in Richtung des Treubrüchigen. Markus Olsen zückte sein Maschinengewehr und richtete es auf ihn, doch Orthon hielt ihn mit einer Geste zurück. Er grüßte ironisch zu Pavel hinauf und stieg ebenfalls ein. Dann hoben die Hubschrauber ab und verschwanden dröhnend in der Dunkelheit.
»Wir müssen hier weg!«, schrie Abakum, als Oksa eben wieder ans Ufer kam. Beide hatten gerade ein weiteres junges Mädchen gerettet.
»Aber es sind noch so viele!«, stieß Oksa atemlos hervor.
»Wir können sie nicht alle retten.«
»Die Armee rückt an!«, warnte Pavel, der gerade mit seinem Tintendrachen über sie hinwegflog. »Nicht, Oksa!«
Zu spät … Die Junge Huldvolle war bereits wieder ins Wasser gesprungen. Sie sah Mortimer vor sich, der nach oben schwamm. Er riss die Augen auf und bedeutete ihr, sich möglichst schnell wieder an Land zu begeben. Es zerriss Oksa das Herz, als sie sah, wie viele noch in dem eiskalten Wasser um ihr Leben kämpften. Jugendliche wie sie, manche sogar jünger, die sich vor ein paar Stunden noch auf den schönsten Abend ihres Lebens gefreut hatten. Hier auszuwählen, wer überleben durfte und wer nicht, war einfach nur schrecklich. Als Zoé gesagt hatte, dass einem das Leben Entscheidungen abverlangte, hatte Oksa sich nicht vorstellen können, dass es so schlimm kommen könnte.
Sie war völlig erschöpft und kurz davor, ohnmächtig zu werden. Schon ließ die Wirkung des Aquapnoe-Befähigers nach und
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