Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
eigenen Vater der Liebsten-Entfremdung unterzogen worden, war allein, mit Leomidos Kind im Bauch – dass er ihr Halbbruder war, wusste sie damals nicht –, aus Edefia herauskatapultiert worden, hatte den Tod ihres Sohnes hinnehmen müssen, den Orthon angeordnet hatte, und war schließlich von ihrem Zwillingsbruder eingemäldet worden … Was hatte diese Frau nicht alles durchgemacht.
»Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt«, antwortete Remineszens heiter.
Oksa hätte schwören können, dass das Lächeln der alten Dame Abakum galt. Sie warf einen raschen Blick auf den Feenmann. Sie wusste sehr wohl, dass er Remineszens schon seit langer Zeit liebte. Doch das Schicksal hatte es so gewollt, dass diese Liebe immer im Verborgenen bleiben musste. Zuerst war Leomido, später die Liebsten-Entfremdung die Ursache dafür gewesen, dass Remineszens dem Feenmann nie mehr als bloße Zuneigung hatte entgegenbringen können. Oksa fand das furchtbar traurig, aber Abakum schien dennoch sehr glücklich zu sein.
Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. In der Tiefe des großen Saals stand ein riesiger Destillierkolben, zehnmal so imposant wie der in Dragomiras Streng-vertraulichem-Atelier, und darin blubberte es ohne Unterlass. Die Röhren bildeten ein undurchschaubares Gewirr. Aus der obersten stieg ein süßlicher Dampf auf, während die unterste Hunderte von Granuks ausspuckte, die ein Beflissener mit größter Vorsicht einsammelte. Oksa fiel auf, wie behutsam diese scheinbar so unbeholfenen Geschöpfe mit allem umgingen, was sie anfassten. Mit ihren Hufen war das bestimmt nicht leicht. Und doch erledigten die Beflissenen ihre Aufgaben ohne jeden Fehler.
Oksa schlenderte an mehreren hüfthohen Behältern entlang. Sie waren randvoll mit Tornaphyllons, Dermaflamms, Dormodens- und Memo-Trümmer-Granuks, Arboreszens- und Hypnagos-Granuks, Putrefactios, Colocynthissen und vielen anderen. Jeder Behälter musste an die zehntausend Granuks enthalten! Oben auf einem Regal sah sie ein schwarzes Glasgefäß stehen, das viel kleiner war als die anderen. Das silbrige Etikett und die Bleiversiegelung weckten ihre Neugier.
»Die Crucimaphilla«, murmelte sie, nachdem sie den Namen auf dem Schildchen entziffert hatte. Der Schwarze Globulus.
Nur ungern dachte sie an die schreckliche Wirkung dieser Waffe. Die Crucimaphilla gehörte zu den gefährlichsten aller Granuks. Sie erzeugte ein schwarzes Loch, das alles Lebendige einsog und zerstörte.
Abakum kam zu ihr heran, blieb hinter ihr stehen und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Nun, da du die Huldvolle bist, steht dir der Gebrauch dieses Granuks zu«, erklärte er. »Und du bist die Einzige, die es verwenden kann …«
»Außer dir«, präzisierte Oksa rasch.
Nie würde sie den Moment vergessen, als der Feenmann das schreckliche Granuk auf Orthon abgeschossen hatte, damals in dessen Keller in London. Dass Orthon am Ende doch nicht gestorben war, lag nur daran, dass er ein Nachfahre von Temistokeles, dem ersten und mächtigsten aller Mauerwandler, war. Dadurch besaß er einen ganz speziellen Stoffwechsel. Doch für eine Weile hatte die Crucimaphilla ihn trotzdem ausgeschaltet.
»Dir ist sicherlich klar, wie außergewöhnlich die Umstände sein müssen, um dieses Granuk einzusetzen«, fuhr Abakum fort. »Zumal ich seine Wirkung noch verstärkt habe.«
Die Junge Huldvolle nickte ernst, während ihr Blick auf dem schwarzen Gefäß ruhte.
»Wegen der tödlichen Wirkung und der außergewöhnlichen Beschaffenheit der Crucimaphilla kannst du immer nur eine einzige davon in deinem Granuk-Spuck haben. Sonst würde sie die Wirkung der anderen Granuks beeinträchtigen und dein Blasrohr unwiederbringlich beschädigen. Außerdem muss zwischen der Verwendung zweier Crucimaphillas eine gewisse Zeit verstreichen.«
»Wie viel?«, fragte Oksa gebannt.
»Hundert Tage.«
Die Junge Huldvolle stieß einen Pfiff aus und wandte sich zu Abakum um.
»Die Crucimaphilla bringt den Tod«, sagte der Feenmann leise, aber eindringlich. »Über sie zu verfügen, stellt eine große Verantwortung dar, denn ein solches Granuk steht im Widerspruch zu unseren Prinzipien, alles Lebendige zu achten.«
Er schwieg einen Moment.
»Orthon und die Seinen lassen uns aber keine andere Wahl«, fuhr er schließlich fort. »Ich weiß, dass das die schlimmste aller Ausreden ist, aber die Gefahr ist so groß, und wir müssen einen Weg finden, um uns zu verteidigen –
Weitere Kostenlose Bücher