Oksa Pollock. Die Unverhoffte
dieselbe.«
Die St.-Proximus-Schule
D
ie schweren Holzflügel der riesigen Eingangstür standen offen. Im Durchgang zum gepflasterten Hof begrüßten zwei Lehrer die Schüler und ihre Familien. Zögerlich gingen Gus und Oksa unter dem wunderschönen Steingewölbe hindurch. Ihre Ankunft blieb nicht unbemerkt. Wieder einmal musste Oksa feststellen, dass immer, wenn Gus irgendwo auftauchte, Mädchen ihr Gespräch unterbrachen und sich nach ihm umdrehten. Gus wurde rot vor Verlegenheit und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Schweren Herzens trennten sich die beiden von ihren Eltern, die bei den anderen Familienangehörigen stehen blieben.
»Na super … die Neandertalerin ist immer noch da«, murmelte ein Schüler so laut, dass es nicht zu überhören war.
»Die was ?«, fragte Oksa und drehte sich zu ihm.
Der Junge musterte sie neugierig. Blonde Locken umrahmten das Gesicht mit den großen, strahlenden braunen Augen.
»Hallo! Ich bin Merlin Poicassé«, sagte er und reichte Oksa und Gus übertrieben förmlich die Hand. »Seid ihr neu hier?«
»Ja«, antwortete Oksa »Wir sind gerade erst nach London gezogen. Ich heiße Oksa Pollock.«
»Und ich bin Gustave Bellanger. Aber du kannst mich Gus nennen.«
»Okay! Also, die Neandertalerin, das ist die da«, sagte Merlin und deutete unauffällig in Richtung eines finster dreinblickenden und auffallend stämmigen Mädchens. »In Wirklichkeit heißt sie Hilda Richard. Ich kann euch sagen, es ist ein Erlebnis der besonderen Art, mit ihr zu tun zu haben.«
»Wie meinst du das?«, fragte Gus.
Merlin seufzte. »Gemeine Hinterhalte, Blutergüsse, Beleidigungen und so weiter – reicht das für einen ersten Eindruck? Willkommen an der St.-Proximus!«
»Nur, damit du es weißt, Gus«, sagte Oksa mit zusammengebissenen Zähnen, »wenn du nicht in meiner Klasse bist und ich dann auch noch bei diesem Mädchen lande, kriege ich einen Anfall, der sich gewaschen hat !«
»Ah, gleich werden wir in die Klassen eingeteilt!«, rief Merlin. »Kommt mit!«
Inmitten der Lehrer der St.-Proximus stand Rektor Lucien Bontempi auf einer kleinen Bühne und klopfte an das Mikrofon vor ihm. Mit seinem pausbäckigen Gesicht und der rundlichen Figur sah er aus wie ein Clown, ein Eindruck, der durch seine leuchtend grüne Krawatte und das orangefarbene Einstecktuch in seinem Jackett noch verstärkt wurde. Der resolute Ton, den er bei seiner Begrüßungsrede anschlug, stand allerdings in einem gewissen Gegensatz zu seinem liebenswürdigen Äußeren.
»Und nun will ich euch nicht länger auf die Folter spannen und die Klasseneinteilung verkünden: Traditionell werden an der französischen Schule in London die drei Klassen jedes Jahrgangs nach den chemischen Elementen Quecksilber, Wasserstoff und Kohlenstoff benannt. Fangen wir mit den Jüngsten an: den Sechstklässlern.«
Nun las er einen Namen nach dem anderen vor, und die aufgerufenen Schüler, alle in Uniform, stellten sich in Reihen auf. Am Ende der zweiten Liste brach Monsieur Bontempi auf einmal die Stimme.
»Williams, Alexandre!«, rief er.
Ein kleiner Junge in Begleitung einer sehr blassen, ganz in Schwarz gekleideten Frau trat vor. Der Schulleiter legte ihm sichtlich ergriffen die Hand auf die Schulter, beugte sich zu ihm und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.
»Ist das sein Sohn?«, fragte Oksa leise.
»Nein«, antwortete Merlin. »Es ist der Sohn eines Mathelehrers, der vor zwei Wochen tot in der Themse gefunden wurde.«
»Oh, wie schrecklich!«, rief Oksa. »Hat er Selbstmord begangen?«
»Nein, er ist umgebracht worden. Es war in allen Zeitungen zu lesen«, erklärte Merlin leise.
»Der arme Junge«, sagte Oksa und schluckte.
Sie unterdrückte ein Schaudern und wandte sich wieder dem Rektor zu, der mit der Namensliste fortfuhr.
»Und nun die achte Klasse Wasserstoff bei Mr McGraw«, sagte Monsieur Bontempi und rief einen langen mageren Mann zu sich. »Ich bitte folgende Schüler vorzutreten: Beck, Zelda; Bellanger, Gustave …«
Gus warf Oksa noch einen aufmunternden Blick zu und ging dann zu der Gruppe, die sich nach und nach um Mr McGraw bildete. Oksas Herz schlug wie wild. Ihre Lider flatterten, und es kam ihr vor, als hallte das Hämmern ihres Herzens genauso an den Mauern des Schulhofs wider wie die Namen, die der Schulleiter herunterbetete. Sie fühlte sich auf einmal einsam und suchte mit den Augen ihre Eltern, die nur ein paar Meter weit weg standen. Ihr Vater hob die Fäuste mit gedrückten Daumen hoch,
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