Oksa Pollock. Die Unverhoffte
ganze Menagerie im Atelier angelangt war, schloss Dragomira den Kontrabasskasten hinter ihnen. Das Wohnzimmer sah fast wieder aus wie das einer ganz normalen Frau.
Der Pollock-Clan
H
allo, Papa! Hallo, Mama!«
Marie und Pavel Pollock saßen am Küchentisch. Als sie ihre Tochter hörten, blickten beide von ihren dampfenden Teetassen auf und musterten sie neugierig.
»Ja, ich weiß«, sagte Oksa und seufzte. »Ich bin nicht wiederzuerkennen.«
»Stimmt – abgesehen von deinem hübschen Köpfchen«, sagte ihr Vater. »Ich kann kaum glauben, dass das die unerschrockene Ninja ist, die ich kenne. Aber der neue Look ist wirklich hinreißend. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Veränderung radikal ist.«
Missmutig sah Oksa an sich hinunter. Wer hätte je gedacht, dass sie sich eines Tages in Faltenrock, weißer Bluse und dunkelblauem Blazer in der Öffentlichkeit zeigen würde?
»Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich in der Schule eine Uniform tragen muss, wäre ich nicht mit nach England gezogen«, schimpfte sie und lockerte wütend den Knoten ihrer Krawatte in den Farben der neuen Schule, Dunkelblau und Weinrot.
Ihre Mutter sah sie mit ihren schönen haselnussbraunen Augen an und seufzte. »Ach, Oksa! Es ist doch nur für den Unterricht. In deiner Freizeit kannst du Jeans und Turnschuhe tragen, so oft du willst.«
»Okay, okay«, sagte Oksa mit erhobenen Händen. »Ich sag ja nichts mehr. Aber ich werde nie vergessen, dass ihr mich auf dem Altar eurer Karriere geopfert habt. Ihr dürft euch nicht beklagen, wenn ich schwere psychische Schäden davontrage.«
Ihre Eltern, die Oksas flammende Reden gewohnt waren, sahen sich lächelnd an. Marie Pollock stand auf und nahm ihre Tochter in den Arm. Oksa fand sich eigentlich zu alt für solche Gefühlsausbrüche, doch insgeheim genoss sie die Zärtlichkeit ihrer Mutter. Also verbarg sie einfach ihr Gesicht in Maries langen braunen Haaren.
»Und ich?«, mischte sich Pavel Pollock mit gespielter Entrüstung ein. »An mich denkt mal wieder keiner. Mich lässt man in meiner Ecke hocken wie einen Hund!«
Pavel war ein Mann mit markanten Zügen, der immer ernst wirkte. Sein grau meliertes Haar und die grauen Augen milderten diesen Eindruck etwas ab, außerdem hatte er von seiner Mutter einen gesunden Sinn für Humor geerbt, der in jeder Lebenslage zum Einsatz kam.
»Ach, der große russische Tragiker Pavel Pollock ist wieder zurück!«, sagte Oksas Mutter lachend. »Mit euch beiden habe ich es wirklich gut getroffen …«
Oksa liebte diese Wortwechsel zwischen ihren Eltern. In diesem Augenblick verkündete Pavels Handy laut klingelnd, dass es sieben Uhr dreißig war und damit Zeit, zu gehen.
»Baba! Wir warten nur noch auf dich!«, rief Oksa die Treppe zum zweiten Stock hinauf.
Als Dragomira oben in der Tür erschien, erntete sie begeisterte Ausrufe. Sie war eine eindrucksvolle Erscheinung und wurde deswegen im engen Familien- und Freundeskreis ehrfürchtig die Baba Pollock genannt. Sie hielt sich immer sehr gerade und wirkte ein wenig streng. Ihr Gesicht war jedoch alles andere als hochmütig, es strahlte eine große Lebendigkeit aus, und die rosigen Wangen und die breite Stirn betonten die Wirkung der intensiven dunkelblauen Augen. Ihre blonden, von Silberfäden durchzogenen und in einem Zopf um den Kopf geschlungenen Haare verliehen ihr eine leicht slawische Note. Heute Morgen war ihre Familie allerdings eher über ihre fantastische Aufmachung entzückt.
»Ich bin so weit, Kinder«, sagte sie und schritt die Treppe hinunter. Ihr langes violettes Kleid, bestickt mit Rehen aus schwarzen Perlen, wogte wie eine Blütenkrone um sie herum.
»Du siehst wunderschön aus, Baba!«, rief Oksa hingerissen und warf sich in die Arme ihrer Großmutter, woraufhin deren Ohrringe ein fröhliches Klingeln von sich gaben.
Es waren meisterlich gearbeitete Ohrringe mit zwei winzigen, knapp zwei Zentimeter großen Vögeln, die auf kleinen Stangen saßen. Sie schaukelten hin und her und schienen leise, aber sehr schrill ihre Kunststücke als Düsenjägerpiloten zu diskutieren. Dragomira runzelte die Stirn.
»Oh, fast hätte ich was vergessen! Könnt ihr noch einen kleinen Augenblick auf mich warten? Ich bin gleich wieder da.«
Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt, stieg rasch zu ihrer Wohnung hinauf und schloss die Tür gut hinter sich ab.
Das Wiedersehen
D
ragomira stand mit drohend erhobenem Zeigefinger vor dem Spiegel und schimpfte mit ihrem Abbild.
»Ihr zwei
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