Oksa Pollock. Die Unverhoffte
große Begabung für das Glück, die Leichtigkeit, all diese Dinge, weißt du?«
»Aber das ist ja grausam!«, rief Oksa mit ehrlichem Mitgefühl.
»Nein, nein, da irrst du dich. Ich würde eher sagen, dass ich weder glücklich noch unglücklich bin. Ich habe nur keine Erwartungen, das ist alles.«
Oksa war erschüttert von Tugduals Worten. Sie ließ die Schultern sinken, als würde plötzlich ein großes Gewicht aus Traurigkeit und Mitgefühl auf ihr lasten.
»Lange Zeit wollte ich Kräfte haben, die mir mehr Macht verliehen hätten als anderen Menschen«, erzählte Tugdual. »Ich habe mich ordentlich ins Zeug gelegt und nichts unversucht gelassen.«
»Mein Vater hat mir davon erzählt«, sagte Oksa und verzog das Gesicht bei der Erinnerung an die abscheulichen Tränke, die Tugdual und seine Gruppe zu sich genommen hatten.
»An dem Tag, als ich erfuhr, dass ich all diese Gaben von selbst hatte, glaubte ich, mein Ziel wäre erreicht. Und dann bin ich sehr bald an dem Gefühl von Macht erstickt. Ich habe es in mir weggesperrt und es nie mehr nach draußen gelassen.«
»Warum?«, fragte Oksa.
»Weil Macht, Kleine Huldvolle, Gefahr im Reinzustand ist. Wenn man keine Angst hat, ist man unverwundbar, nichts kann einen aufhalten. Es ist die Angst, die die Menschen schwächt. Doch sie ist es auch, die sie zu Menschen macht. Zu Wesen mit menschlichen Regungen, meine ich damit.«
»Und du? Hast du manchmal Angst?«
»Eigentlich nicht, das ist ja gerade das Problem«, sagte Tugdual mit gesenktem Kopf.
Beide schwiegen einen Augenblick, aufgewühlt von ihrem merkwürdigen Gespräch.
»Was hast du dir gerade angehört?«, fragte Oksa dann, um das Thema zu wechseln. »Satanische Musik?«
»Nein, die hasse ich«, antwortete Tugdual mit einem kleinen Lachen, das sein bleiches Gesicht auf seltsame Weise erhellte. »Ich habe Lisa Gerrard gehört. Die schönste Musik, die ich kenne. Die ganze Tragödie der Menschheit, der tiefere Sinn des Lebens, das alles steckt in ihren Liedern. Möchtest du mal hören?«
Er setzte Oksa behutsam die Kopfhörer auf, und sie begriff sofort, was er meinte. Eine herrliche Stimme drang ihr erst in die Ohren, dann in den Kopf, erfüllte schließlich ihr Herz und traf sie zutiefst. Es zog ihr regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Waren das die Folgen dieses höllischen Tages? Oder lag es an den Worten der Alterslosen Feen? An ihrer Auseinandersetzung mit Gus? Oder an dieser herzergreifenden Musik? Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass sie nichts anderes mehr wollte als weinen. Sie unterdrückte ihre Tränen, indem sie die Augen so fest zukniff, dass sie Unmengen kleiner Funken sah. Schließlich konnte sie nicht mehr an sich halten: Ein Schluchzer, heftiger als die anderen, die nach außen drängten, schwoll derart an, dass sie einen rauen Schrei in die Nacht hinaussandte.
Tugdual nahm Oksa die Kopfhörer ab und legte vorsichtig seine Hand auf ihre.
»Los, Kleine Huldvolle, lass alles raus …«
»Ich finde zurzeit alles ganz schön kompliziert«, stieß sie mit tränennassem Gesicht schluchzend hervor.
»Ich verstehe.«
Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und das Weinen löste ihre Ängste und trug sie weit weg von ihrem Herzen. Schließlich versiegten ihre Tränen und Oksas Atem beruhigte sich langsam wieder.
»Tugdual?«
»Ja, Kleine Huldvolle?«
»Glaubst du, dass ich dir helfen kann?«
»Nein«, antwortete er und sein Blick war finsterer denn je. »Niemand kann mir helfen. Aber danke für das Angebot. Konzentrier dich lieber auf alles, was um dich herum passiert, und hab vor allem Vertrauen. Die Alterslosen haben recht: Du wirst es schaffen, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Du bist die Einzige, die es kann.«
Diese Bemerkung aus seinem Mund kam unerwartet. Also nahm Oksa sie viel ernster, als wenn irgendjemand anders sie gemacht hätte.
»Dieser Orthon ist das Böse schlechthin, das weiß ich«, fuhr Tugdual fort. »Und das Böse besiegt das Gute leider allzu häufig. Doch du bist nicht wie die anderen, das habe ich gleich gewusst. Und ich kenne mich bei solchen Dingen aus, glaube mir. Du wirst es schaffen.«
So blieben sie sitzen, an den umgefallenen Grabstein gelehnt, bis Oksa wieder ganz ruhig war. Dann half ihnen die Phosphorille, den Weg zum schlafenden Haus zurück zu finden, wo sie sich schweigend trennten.
Die mysteriöse Gestalt, die bis dahin vollkommen reglos an das alte Steinmäuerchen gelehnt hatte, sah sie vorbeigehen und stand nun ebenfalls
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