Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Raubtier war, oder in die eines Zauberwesens mit sagenhaften Fähigkeiten, und schon flogen ihre Beine mit doppelter Geschwindigkeit dahin. Am liebsten schlüpfte sie in die Rolle einer starken Ninjakriegerin mit übermenschlichen Fähigkeiten. Vor allem, wenn sie Ärger hatte oder in Schwierigkeiten war. Das löste vielleicht nicht all ihre Probleme, doch es half ihr, und es machte ihr Spaß zu träumen. Sie lebte nicht in virtuellen Welten, die sie von der Realität entfremdeten. Ganz und gar nicht! Oksa war hellwach, sie wusste genau, was Traum und was Wirklichkeit war. Doch heute Morgen war alles anders … Ein Traum war in ihr echtes Leben eingedrungen, ihre verbrannten Finger erinnerten sie schmerzhaft daran. Oksa hatte sich oft gewünscht, solche Dinge wie heute Nacht zu tun. Aber als der Traum Realität geworden war, hatte sie einfach nur furchtbare Angst gehabt.
Im Augenblick wurde sie allerdings als »Oksa, die blitzschnelle Ninja« auf die Probe gestellt: Wenn sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben zu spät kommen wollte, musste sie den Schulweg mindestens in Schallgeschwindigkeit zurücklegen!
Als sie etwas außer Puste bei der St.-Proximus ankam, machten sich die Schüler eben zu ihren Klassenzimmern auf. Gerade noch geschafft!
Auf dem Weg in ihr Klassenzimmer »Marco Polo«, wo sie gleich Geschichte bei Madame Crèvecœur haben würde, wurde sie von einem Neuntklässler aus dem Raum gegenüber heftig mit der Schulter angerempelt.
»Kannst du nicht aufpassen, du Zwerg?«, schnauzte der Junge, mit dem sie zusammengestoßen war.
»Aber du hast mich doch geschubst!«, rief Oksa empört.
»Geh in den Kindergarten zurück, wenn du nicht geradeaus laufen kannst! Nimm dich bloß in Acht, du Rotznase!«
Er verpasste ihr noch einen Stoß. Diesmal flog sie gegen eine Säule. Dann ging er hämisch lachend mit seinen Freunden davon.
Oksa sah ihm nach. Er hatte dunkelbraune Haare, war breitschultrig, mindestens einen Kopf größer als sie und gut und gern fünfzehn Kilo schwerer.
Auf einmal drehte er sich um und warf ihr einen so finsteren, hasserfüllten Blick zu, dass Oksa zusammenfuhr. Sie konnte es sich nicht erklären. Schließlich zuckte sie die Achseln und ging in ihr Klassenzimmer.
»He, du wärst ja fast zu spät gekommen!«, rief Gus zur Begrüßung. »Eine Premiere im Leben der Oksa Pollock!«
»Hallo, Gus! Ja, das war knapp …«, sagte sie und rieb sich die Schulter.
»Was ist passiert? Bist du gestolpert?«
»Kann man so sagen … über einen Typen aus der Neunten. Er hat mich geschubst und mir richtig wehgetan, dieser dämliche Fiesling!«
»Hat er sich wenigstens entschuldigt?«
»Von wegen! Kein bisschen! Er hat mich auch noch Rotznase genannt und sich über mich lustig gemacht, der Trottel.«
»Ach, reg dich nicht auf, das lohnt sich nicht«, meinte Gus.
»Du hast recht. Trotzdem tut es weh.«
Madame Crèvecœur betrat das Klassenzimmer und begann mit dem Unterricht. Sie war klein und zierlich gebaut, hatte ein strahlendes Gesicht und ein einnehmendes, sanftmütiges Wesen. Ihr Blick war warmherzig, ganz im Gegensatz zu Mr McGraws strengem Ausdruck. Oksa war regelrecht gefesselt vom ersten Geschichtsunterricht.
Als es zum Ende der Doppelstunde läutete, war sie nicht die Einzige, der ein Ausruf der Enttäuschung entfuhr. Die Lehrerin nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis.
»Wir sehen uns morgen wieder, zum Erdkundeunterricht von zehn bis elf Uhr. Inzwischen wünsche ich euch allen einen wunderschönen Tag!«, sagte sie fröhlich.
Es war tatsächlich ein schöner Tag für Oksa. In der Pause bildeten sich bereits Grüppchen von Schülern. Merlin Poicassé kam zu Oksa, um zu fragen, wie es ihr ging. Und Gus fragte Zelda Beck, die ganz allein auf einer Bank saß, ob sie nicht zu ihnen kommen wolle. Er bot ihr einen seiner Crêpes mit Schokoladencreme an, von denen er so viele dabeihatte, dass er damit die ganze Klasse hätte verpflegen können. Dankbar nahm Zelda sein Angebot an.
»Ich komme mir gerade ein bisschen verloren vor. Wir sind erst vor einem Monat hergezogen und ich kenne noch niemanden.«
»Gus und mir geht es genauso!«, sagte Oksa. »Findest du es nicht auch seltsam, in England zur Schule zu gehen und trotzdem Französisch zu sprechen? Ich kann kaum glauben, dass ich in einem anderen Land bin. Außer, wenn ich die Doppeldeckerbusse und Taxis sehe …«
»Stimmt«, antwortete Zelda. »Ich komme mir vor wie ein Tourist, weil ich es immer noch aufregend finde,
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