Oksa Pollock. Die Unverhoffte
!
Sie wiederholte den Versuch einige Male, ignorierte dabei den Stoß, den ihr Po bei jedem Sturz abbekam, und ließ sich schließlich außer Puste aufs Bett fallen. Sie war völlig euphorisch.
»Okay, ganz langsam, ich muss nachdenken … Das ist ja der Wahnsinn!«
Doch sie war zu aufgeregt, um sich zu konzentrieren.
Sie sprang erneut auf und stellte sich vor den Spiegel.
»Ich werde es schaffen!«
Sie versuchte, sich zu erinnern, wie sie sich gefühlt hatte, als sie nach der Schachtel hatte greifen wollen. Ihre Anstrengung, die Dehnung ihres Arms, der heftige Wunsch, die Schachtel in die Hände zu bekommen. Nein, es war kein Wunsch gewesen. Eher so etwas wie ungeheure Verärgerung und Ungeduld. Sie hatte diese Schachtel wirklich um jeden Preis in die Finger bekommen wollen! Oksa schloss die Augen und stellte sich vor, dass sie schwebte wie eben. Kurz darauf öffnete sie vorsichtig die Augen, um in den Spiegel zu schauen: Sie stand aufrecht da, als wäre nichts geschehen – außer, dass sie einen Meter über dem Boden schwebte …
Ein verwirrendes Geheimnis
G
us’ erste Handbewegung morgens nach dem Aufwachen bestand wie immer darin, seinen Laptop auszuschalten. Er schaffte es nicht, schlafen zu gehen, ohne vorher mindestens eine Stunde lang am Laptop zu spielen, und schlief meistens darüber ein.
Seine Eltern waren schon aufgestanden und bereiteten gerade das Frühstück zu, als er in die Küche kam.
Pierre Bellanger, den seine Freunde »Wikinger« nannten, war ein großer, kräftiger, immer schwarz gekleideter Mann. Eine lange Strähne ergrauender blonder Haare hing ihm quer über die Stirn und verdeckte die eine Hälfte seines runden Gesichts. Seine Frau Jeanne war schlank, hatte ein sanftes, ovales, madonnenhaftes Gesicht, wache braune Augen und kurze schwarze Haare.
Als die beiden einst erfahren hatten, dass sie keine Kinder bekommen konnten, war es ein schwerer Schlag für sie gewesen. Jeanne wurde traurig und melancholisch, Pierre hingegen stürzte sich in Arbeit und kam erst spät am Abend nach Hause.
Eines Frühlingstages merkten sie, dass sie etwas tun mussten, wenn sie nicht an dieser Situation zerbrechen wollten. Bereits am nächsten Tag unternahmen sie erste Schritte, um ein Kind zu adoptieren.
Zwei Jahre später konnten sie Gus, ihren »Sonnenschein«, aus einem Waisenhaus in China abholen und mit nach Frankreich nehmen. Man wusste nur wenig über ihn. Seine leibliche Mutter, eine junge Schanghaierin, hatte sich in einen niederländischen Studenten verliebt. Als sie bemerkte, dass sie schwanger war, war der junge Mann bereits nach Hause zurückgekehrt. Da sie nicht für das Baby sorgen konnte, gab sie es nach seiner Geburt in ein Waisenhaus.
Dort hatten sich dann die Bellangers auf Anhieb in den kleinen Jungen verliebt.
Jeanne und Pierre sahen ihrem Sohn beim Essen zu. Mit seinen mandelförmigen blauen Augen, dem glatten schwarzen Haar und den langen, zartgliedrigen Fingern war er ein wunderschöner Junge. Seit dem Kindergarten verliebten sich die Mädchen scharenweise in ihn, worauf Oksa ihn immer unumwunden hinwies, während Gus meist nur verlegen errötete.
Für Oksa, die Gus viel besser kannte als alle anderen, zählten vor allem seine vielen wunderbaren Charaktereigenschaften: Treue, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Intelligenz – vor allem aber war Gus eines: ihr bester Freund.
In dem kleinen Haus am Bigtoe Square, kaum zwei Straßenzüge von Gus entfernt, stand Oksa neben dem Telefon und kaute an den Nägeln. Alle dreißig Sekunden wählte sie Gus’ Nummer und unterbrach sich jedes Mal vor der letzten Zahl. Wie gern hätte sie ihm von ihrer unglaublichen Entdeckung erzählt … aber das, was sie ihm sagen wollte, war schon für sie selbst unfassbar. Also blieb sie aufgewühlt und unschlüssig neben dem Telefon stehen, bis ihr schließlich klar wurde, dass sie noch nicht so weit war, darüber zu sprechen. Es war einfach noch zu früh.
Als ihre Eltern runterkamen, machten es sich alle drei in der Küche gemütlich und frühstückten ausgiebig und in gelöster Atmosphäre. Jedenfalls wirkte es so – doch in Oksa brodelte es, während sie ein dick mit Butter bestrichenes Brot nach dem anderen verschlang. Immer wieder war sie kurz davor, von ihrem unglaublichen Erlebnis zu erzählen. Aber wie? Sollte sie aufstehen und es feierlich verkünden? Oder es beiläufig in einem Nebensatz erwähnen? Oder noch besser: ihre neu erworbenen Fähigkeiten vorführen!
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