Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Schokoladen-Cookie.
»Iss und erzähl! Ich bin so neugierig, dass du auch mit vollem Mund reden darfst.«
»Na ja … Von innen ist die Schule wirklich beeindruckend. Sie würde dir sehr gut gefallen. Unser Klassenlehrer, McGraw, ist gleichzeitig unser Mathe-, Physik- und Chemielehrer. Er ist wahnsinnig streng, bei ihm muss man höllisch aufpassen. Das ist nicht so toll.«
Eine angespannte Stille trat ein. Dragomira wartete.
»Und sonst?«
»Ich freue mich natürlich riesig darüber, mit Gus in derselben Klasse zu sein«, sagte Oksa und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie mitgenommen sie war. Sie scheute sich, ihre Großmutter nach den Strapazen des Umzugs mit ihren Schulproblemen zu belasten. »Gus und ich haben einen sehr netten Jungen kennengelernt. Er heißt Merlin, wohnt seit fünf Jahren in London und macht einen superintelligenten Eindruck. Die anderen Schüler sind auch in Ordnung, außer einem Mädchen, das aussieht wie ein Pitbull. Sie hat höchstens zwei Gehirnzellen.«
»Komm mal mit«, sagte Dragomira, die ihre Enkelin aufmerksam beobachtet hatte und ganz und gar nicht überzeugt war von deren gespielter Lässigkeit.
Sie führte Oksa zu einem prächtigen roten Samtsofa, räumte es rasch ab und sagte: »Setz dich und warte einen Moment auf mich.«
Dann ging sie in den hinteren Teil der Wohnung, wo neben einem ebenfalls bis oben hin vollgeräumten Regal ein großer Arbeitstisch aus poliertem Holz stand. Dort widmete sich Dragomira ihrer Leidenschaft für Botanik und Arzneipflanzen – fast dreißig Jahre lang hatte sie mit Heilkräutern gehandelt. Sie nahm einen kleinen Schlüssel von einem ihrer Armbänder und schloss die Milchglastüren eines Bücherschranks auf. Anstelle von Büchern waren in den Fächern Hunderte von Phiolen aufgereiht. Dragomira nahm eine heraus und schloss die Vitrinentür wieder ab.
»So, das wird dir guttun, meine Kleine. Ein spezielles Öl für schwere Tage.«
»Aber, Baba, so schlimm war es doch gar nicht.«
»Pst, keine Widerrede!«
Oksa gehorchte und überließ sich der wohltuenden Schläfenmassage ihrer Großmutter. Ihr Blick schweifte zu den Rauchkringeln der Räucherstäbchen, die zwischen dem Nippes, den Wandkonsolen, runden Tischchen und mit purpurrotem oder altgoldfarbenem Samt bezogenen Sofas brannten. Während der Rauch friedlich zu den Stuckmedaillons an der Decke aufstieg, quälten Oksa allerlei Gedanken. Tatsächlich war es heute nicht nur anstrengend gewesen, sondern absolut grässlich! Und die noch frischen Erinnerungen an den ersten Schultag ließen ihr keine Ruhe …
Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie auf dem Boden gelegen, mit schweißbedeckter Stirn, wild klopfendem Herzen und starken Bauchschmerzen. Sie hatte in mehrere besorgte Gesichter gesehen. Gus kniete mit banger Miene neben ihr. Merlin sagte: »Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder«, und schließlich kam noch seine Tischnachbarin Zelda, ein Mädchen mit wunderschönen Augen, ebenfalls zu der Gruppe.
Der Lehrer dagegen wirkte verärgert. »Bist du immer so empfindlich, Oksa Pollock?«, fragte er kalt.
Trotzig und um den wenig einfühlsamen Worten ihres Lehrers zu entgegnen, gab Oksa sich einen Ruck und richtete sich auf. Sie schämte sich, aber gleichzeitig war sie auch sehr wütend.
»Sollen wir den Notarzt rufen, Mr McGraw?«, fragte ein Schüler mit Panik in der Stimme.
Der Lehrer warf ihm einen verächtlichen Blick zu, ehe er spöttisch sagte: »Und warum nicht gleich die Abteilung für Nothilfe des Gesundheitsministeriums, wenn du schon dabei bist? Aber vielleicht sollten wir Fräulein Pollock diese Frage selbst stellen. Sollen wir dich ins Krankenzimmer bringen, oder glaubst du, dass du diesen nervenaufreibenden Tag bis zum Schluss durchhalten kannst?«
Gus’ vorwurfsvolles Schnaufen ignorierte der Lehrer.
Mithilfe ihrer Klassenkameraden hievte sich Oksa wieder auf ihren Stuhl und versuchte, die Bauchschmerzen und ihre Riesenwut zu verdrängen.
»Hat sonst noch jemand vor, zusammenzubrechen? Nein? Kein Freiwilliger mehr?«, fragte der Lehrer.
Zu seinem großen Erstaunen meldete sich jemand.
»Ja, Oksa?«
Darauf war er nicht gefasst gewesen, im Gegenteil, er wirkte verunsichert. Ob er wohl seine Härte bereute?
»Ich möchte bitte meinen Satz zu Ende bringen.«
Oksa sprach diese Worte mit monotoner, aber fester Stimme. Gleichzeitig drang ein eisiger Luftzug ins Klassenzimmer und die Fenster knallten mit einem dumpfen Schlag zu. Alle zuckten
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