Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Sorgen machten. Als sie dann aufwachte, war ihre ganze linke Körperhälfte gelähmt. Sie konnte uns nur noch mitteilen, dass sie überall furchtbare Schmerzen hatte. Da habe ich den Krankenwagen gerufen und kurz darauf seid ihr gekommen.«
Pavel vergrub verzweifelt das Gesicht in den Händen. Oksa schlang vom Rücksitz aus die Arme um seinen Hals, um ihn zu trösten. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, so hilflos fühlte sie sich.
»Da ist das Krankenhaus«, sagte Abakum schließlich in die im Wagen herrschende Stille hinein. »Hier wird man sich gut um sie kümmern, und ihr werdet sehen, in ein paar Tagen ist alles nur noch eine böse Erinnerung.«
Doch in seiner Stimme lag keine Zuversicht. Die Hände ans Lenkrad geklammert, suchte er im Rückspiegel Dragomiras Blick, und deren angstvoller Ausdruck bestätigte nur seine eigenen unausgesprochenen Befürchtungen.
Am nächsten Morgen musste Oksa zur Schule, obwohl ihr bleischwer ums Herz war und ihre Gedanken Lichtjahre von den alltäglichen Sorgen und Nöten einer Schülerin entfernt waren. Dies war kein Montag wie üblich.
Zu Oksas Erleichterung war McGraw krankgemeldet. Seine Gegenwart und erst recht seine sarkastischen Bemerkungen hätte sie heute nicht ertragen. Merlin und Zelda, die von Gus alles erfahren hatten, versuchten, ihrer Freundin beizustehen, so gut sie konnten. Doch die Worte der anderen glitten einfach an Oksa ab. Nichts und niemand konnte sie trösten.
In der Stunde von Monsieur Bento überfielen sie die düstersten Gedanken und stürzten sie in abgrundtiefe Verzweiflung. Natürlich hatte sie schon einmal an den Tod gedacht. Menschen aus ihrem Umfeld waren gestorben, allerdings, wenn sie es sich genau überlegte, nie jemand, der ihr nahegestanden hatte. Sie hatte noch nie einen Menschen verloren, den sie liebte. Noch nie. Der Tod war immer etwas Abstraktes gewesen, ein Schmerz, den sie sich abgrundtief und unauslöschlich vorstellte. Ein bleiernes Gefühl von Leere. Doch jetzt war alles anders. Es war real . Es war nicht nur ein Schmerz, es war ein stummes, unkontrollierbares Entsetzen, das sich in jedem noch so kleinen Winkel ihres Innern einnistete.
In der Pause flüchtete sie sich in die Skulpturenhöhle und schloss sich ein, um ihren Tränen endlich freien Lauf zu lassen. Als sie mit verweinten Augen wieder zum Vorschein kam, erwarteten ihre Freunde sie voller hilfloser Sorge. Kurz vor Mittag holte Monsieur Bontempi sie aus dem Klassenzimmer und nahm sie mit in sein Büro.
»Oksa, ich weiß, dass deine Mutter im Krankenhaus liegt. Das ist eine schwierige Situation, mit der auch ich in deinem Alter einmal konfrontiert war, und ich glaube, es wäre für deine Mutter und für dich besser, wenn du ein paar Tage bei ihr bleiben würdest. Den versäumten Unterricht holst du rasch wieder auf. Du hast Freunde, auf die du dich verlassen kannst. Das ist das Gute, wenn man so beliebt ist, nicht wahr?«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das sie aufmuntern sollte. »Deine Großmutter kommt dich abholen. Ach, da ist sie ja schon!«
Oksa sprang so abrupt auf, dass ihr Stuhl umkippte.»Baba! Hast du Mama besucht? Wie geht es ihr?«
»Sie haben eine Reihe von Untersuchungen gemacht«, antwortete Dragomira, nachdem sie Monsieur Bontempi begrüßt hatte. »Im Lauf des Tages werden wir Genaueres erfahren. Sie hat eine sogenannte Hemiplegie, das ist eine halbseitige Lähmung. Aber es gibt noch ein anderes neurologisches Problem, das die Ärzte gerade untersuchen. Im Augenblick wissen sie nicht viel, es ist noch zu früh. Es geht ihr aber ein wenig besser, Oksa, ihre Schmerzen haben nachgelassen und sie möchte dich gern sehen.«
»Dann lassen Sie sie nicht länger warten, Madame Pollock«, ermunterte Monsieur Bontempi sie. »Nichts wie los! Und halt die Ohren steif, Oksa, deine Mutter braucht dich jetzt.«
Die folgenden Tage waren eine harte Prüfung für die Pollocks. Jeden Tag saß Oksa zusammen mit ihrem Vater stundenlang am Krankenbett von Marie. Oksa versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, breitete all die Geschenke auf dem Bett aus, die sie am Vormittag mit ihrem Vater zusammen in der Stadt gekauft hatte: Nachthemden, eines hübscher als das andere, Parfüm, allerlei Kleinigkeiten und Blumen, um das Zimmer zu verschönern, kandierte Früchte – für die Marie eine Schwäche hatte –, Entspannungsmusik. Sie las ihrer Mutter aus dem People -Magazin vor, um sie auf andere Gedanken zu bringen, und erzählte ihr alles, was ihr
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