Oksa Pollock. Die Unverhoffte
hingegen schaute McGraw geradewegs in die Augen. Es fiel ihr zwar nicht leicht, doch sie war fest entschlossen, nicht als Erste wegzusehen. Und eine Reihe von Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, halfen ihr dabei. Ganz konkrete Bilder waren es: die Huldvolle Malorane, die sich für Dragomira in Gefahr begab; der Mann mit dem verwesenden Arm, der sich vor Schmerzen wand; die Flammen, die aus der Gläsernen Säule in Edefia schlugen; ihre Mutter auf der Krankentrage. Auch wenn das letzte Bild nichts mit den anderen zu tun hatte, gab dieses ihr am meisten Kraft. McGraw hatte sich über das Unglück ihrer Mutter lustig gemacht und das würde Oksa auf keinen Fall hinnehmen!
Der Lehrer blätterte in seinen Unterlagen und zog das Blatt mit der besagten Aufgabe heraus. Er überflog den Text, doch Oksa war sich ihrer Sache ganz sicher und wandte keine Sekunde die Augen von ihm. Schließlich hob er den Kopf und maß sie mit einem abgrundtief finsteren Blick.
»Wie gut, dass wir das brillante Fräulein Pollock haben, um die Fehler des Lehrers aufzuspüren. Soll ich dir vielleicht gleich meinen Platz überlassen?«, fragte er spitz. Seine schmalen Lippen waren wutverzerrt.
»Aber, Mr McGraw, ich bin doch keine Lehrerin, ich bin ja erst dreizehn Jahre alt«, gab Oksa ironisch zurück. »Ich wollte nur sicher sein, dass es auch wirklich ein Fehler in der Aufgabenstellung ist, weil man es sonst womöglich nicht versteht.«
»Deine Klassenkameraden haben es sicherlich schon ausgebessert. Ganz bestimmt haben alle auch ohne deinen gütigen Hinweis bemerkt, dass da ein Fehler vorliegt. Ein derartiger Irrtum kann wohl kaum jemandem entgangen sein«, schloss McGraw eisig.
Oksa quittierte den Hinweis mit einem zuckersüßen Lächeln. Sie bemerkte, wie mehrere Schüler hastig nach ihrem Mäppchen und Schulheft griffen, um die unlogische Aufgabenstellung zu korrigieren und rasch noch nach einer Lösung für die Aufgabe zu suchen. Das verstohlene Geraschel und Oksas provozierendes Lächeln entgingen auch McGraw nicht. Die ganze restliche Stunde sandten seine Augen vernichtende Blitze in Richtung der Schülerin.
Natürlich war Oksa in der Pause die gefeierte Heldin. Die Schüler der Achten Wasserstoff jubelten: Wieder einmal hatte Oksa dem verhassten McGraw die Stirn geboten. Sie konnte gerade noch rechtzeitig das Weite suchen, um nicht im Triumphzug herumgetragen zu werden. Oksa war nämlich weit davon entfernt, sich diesen Sieg zu Kopf steigen zu lassen, dazu waren ihre Gedanken doch noch zu sehr bei ihrer Mutter.
»Ich rufe mal eben zu Hause an, um zu fragen, wie es meiner Mutter geht. Als ich heute Morgen wegging, war sie noch nicht wach. Ich gehe mein Handy holen, es liegt in meinem Schließfach.«
»Soll ich mitkommen?«, bot Gus sofort an.
»Ist nicht nötig. Es dauert nur eine Minute.«
Der Gang war leer, alle tummelten sich draußen auf dem Schulhof, um die Sonne zu genießen. Oksa holte ihr Mobiltelefon aus dem Fach und rief zu Hause an. Dragomira meldete sich und konnte sie beruhigen: Marie ging es heute Morgen gut, sie hatte es sogar geschafft, auf Pavels Arm gestützt, ein paar Schritte zu gehen. Die Wurmiculums vollbrachten offenbar wahre Wunder. Beruhigt schaltete Oksa das Handy aus. Doch als sie sich umdrehte, verschwand das erleichterte Lächeln auf ihrem Gesicht schlagartig: Vor ihr stand der Fiesling aus der Neunten. Keine zwei Schritte von ihr entfernt!
»Sieh mal einer an! Da ist ja mein Lieblingszwerg! Anscheinend spuckst du nicht mehr so große Töne, wenn dir dein Fanclub aus schwachköpfigen Schleimern fehlt«, spottete er.
»Nicht so große Töne wie wer?«, gab Oksa bissig zurück und massierte sich das Handgelenk, um den Druck des Ringelpupos zu lindern, das sich an diesem Vormittag schon zum zweiten Mal gezwungen sah, in Aktion zu treten.
»Spiel dich ruhig auf, Fräulein-ich-bin-die-Allergrößte. Ich weiß ganz genau, wer du bist … Aber bilde dir bloß nichts darauf ein, du bist nämlich nicht mal annähernd so stark, wie du denkst. Meinem Vater kannst du jedenfalls nicht das Wasser reichen. Wenn er will, dann macht er dich und deine ganze Familie platt.«
»Ach ja?«, entgegnete Oksa, fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Was ist er denn, dein Herr Papa? Eine Dampfwalze?«
»Du arme Irre, du hast es noch immer nicht kapiert!«, schrie der Fiesling. »MEIN VATER IST MCGRAW!«
Aus eins mach drei
A
ls Oksa das hörte, konnte sie sich einfach nicht mehr im Zaum halten:
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