Oksa Pollock. Die Unverhoffte
angeschlagen. Sicher, sie ist noch nicht wieder gesund, noch lange nicht. Aber wenn man bedenkt, wie schlimm es war, dann sollte sie den Ärzten nach in einem viel, viel ernsteren Zustand sein. Ich hoffe bloß, dass es so weitergeht.«
»Also, das ist mal wieder echt Pollock! Mikroskopisch kleine Würmer! Wenn es euch nicht schon gäbe, dann müsste man euch erfinden. – Und du, wie geht’s dir?«, fragte Gus und sah Oksa verstohlen von der Seite an.
»Oh, Gus! Du hast da einen schwarzen Fleck auf der Nase!«, rief Oksa, um von seiner Frage abzulenken. »Nein, war nur ein Scherz. Jetzt, wo Mama wieder zu Hause ist, geht’s mir besser, auch wenn sie die Sache noch nicht überstanden hat. Papa weicht nicht von ihrer Seite, du kennst ihn ja. Und dann solltest du mal die Plemplems sehen! Dragomira hat ihnen erlaubt, in unsere Wohnung zu kommen, und da wuseln sie jetzt herum wie … wie …«
»Wie Plemplems?«, half ihr Gus.
Oksa lachte von Herzen – zum ersten Mal seit Tagen.
»Ja, ganz genau. Sie reden noch abgefahrener als sonst. Aber Gott sei Dank sind sie da. Meine Mutter findet sie einfach genial und ich auch.« Sie schwieg einen Moment und fragte dann: »Und … und McGraw?«
»McGraw? Och … er hat gefragt, wo du bist, stell dir vor, man könnte fast meinen, du fehlst ihm. Ansonsten nichts Neues. Er ist wie immer. Die Niedertracht in Person, wie dein Vater sagt. Aber es gibt noch jemanden, dem du sehr gefehlt hast …«
Er wurde von Merlin Poicassé unterbrochen, der mit einem Freudenschrei herbeikam. Auch er begrüßte Oksa mit einem stürmischen, ein wenig ungeschickten, aber ehrlich erfreuten Küsschen.
Schon wieder überzog ein zartes Rosarot Oksas Wangen. Angesichts dieses ganzen Abküssens fragte sie sich im Stillen: Was ist denn mit den beiden los? Haben die eine Wette abgeschlossen, oder was? Hätte sie jedoch gesehen, wie Gus in diesem Moment die Kinnlade herunterfiel, so wäre ihr rasch klar geworden, dass es hier gewiss nicht um eine Wette ging. Dieser Jemand, dem sie auch noch gefehlt hatte, war vielleicht gar nicht der, den sie meinte …
Wie Monsieur Bontempi vorhergesehen hatte, bereitete die einwöchige Abwesenheit vom Unterricht Oksa keinerlei Probleme, und sie war schnell wieder auf dem Laufenden. Alle Lehrer erkundigten sich voller Anteilnahme nach ihrer Mutter, nur McGraw begegnete ihr in seiner gewohnt ironisch verächtlichen Art.
»Nein, so was, die un-ver-hoff-te Rückkehr von Fräulein Pollock!«, bemerkte er und betonte dabei spöttisch jede einzelne Silbe. »Eine Woche Abwesenheit, nur weil ein Elternteil im Krankenhaus ist! Da können wir uns ja ausrechnen, wie das wird, wenn du selbst einmal krank werden solltest – ein Jahr Pause ist dann wohl das Mindeste.«
Ein empörtes Raunen ging durch die Reihen. Oksa selbst verschlug es buchstäblich die Sprache, und sie spürte sofort, wie sich ihr Ringelpupo fester um ihr Handgelenk schloss. Kein Wunder, sie regte sich ja auch auf. Und wie sie sich aufregte! Ihre Hand wanderte zu der kleinen Umhängetasche und berührte ihr Granuk-Spuck. Sie hätte gute Lust gehabt, es zu benutzen. Ein ordentliches Verwirrsalis oder ein Dermaflamm, das würde diesem arroganten McGraw seine Ironie schon austreiben!
Der Druck des Ringelpupos verstärkte sich. Oksa musste Luft holen, und auf einmal fühlte sie sich erfrischt, und die Wut, die eben noch in ihrem Innern gebrodelt hatte, war wie weggeblasen. In dem Moment kam ihr eine geniale Idee, die gerade deshalb so genial war, weil sie keiner magischen Zutaten bedurfte. Ohne es zu ahnen, lieferte McGraw ihr die perfekte Gelegenheit für einen Racheakt. Während er etwas an die Tafel schrieb, hob sie den Arm.
»Mr McGraw?«
McGraw drehte sich misstrauisch um. »Ja?«
»Mr McGraw, in der letzten Aufgabe, die Sie uns gegeben haben, stimmt irgendetwas nicht«, sagte Oksa unschuldig. »Anscheinend haben Sie da Abszisse und Ordinate verwechselt. So, wie die Aufgabe gestellt ist, lässt sie sich nicht lösen.«
Die Stille, die nach dieser durchaus stichhaltigen Bemerkung eintrat, war erdrückend. Ganz hinten im Klassenzimmer kam Gus ein für alle Mal zu dem Schluss, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war, seine Freundin je noch einmal zur Vernunft bringen zu wollen. In Erwartung des Wutausbruchs, der gleich über die Klasse hereinbrechen würde, bissen sich einige Schüler angespannt auf die Unterlippe, während andere den Blick vorsichtshalber auf die Tischplatte senkten.
Oksa
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