Oksa Pollock. Die Unverhoffte
das!«, rief Leomido.
Oksa staunte über sich selbst, als sie mit irrsinniger Geschwindigkeit zum Himmel hinaufschoss, der gerade von großen dunklen Wolken verfinstert wurde. Kurz darauf tauchte sie wieder auf – ein winziger Punkt, der auf die Erde zuraste, wie Leomido mit dem Kopf voran. Doch der Schrei, den Oksa dabei ausstieß, glich eher einem gewaltigen Brüllen. Es klang so erschreckend, dass Leomido und Dragomira pfeilschnell in die Luft schossen und Gus es erst begriff, als er Dragomiras rotes Kleid in der Luft flattern sah. Da waren ihr Großonkel und ihre Großmutter schon bei Oksa, nahmen sie rechts und links beim Arm und brachten sie sicher auf den Boden zurück. Als sie wieder unten standen, machten alle drei einen sehr verärgerten Eindruck.
»Was sollte das denn?!«, schrie Oksa und riss sich von ihnen los. »Es ging so gut! Ihr habt wohl kein Vertrauen zu mir?«
»Nimm’s uns nicht übel«, antwortete Leomido ernst. »Man braucht wochenlanges Training, um in dieser Geschwindigkeit zu vertikalieren. Es hat nichts mit mangelndem Vertrauen zu tun, wir haben nur Angst bekommen, dass du abstürzt.«
»Dass ich abstürze ? Soll das ein Scherz sein, Leomido? Ich habe mich köstlich amüsiert!«
Und zum Beweis für ihre Worte schoss sie erneut rasend schnell in die Luft. Sie hob so kräftig ab, dass sie gleich darauf über den Wolken verschwunden war. Ein fantastischer Flug, gefolgt von einer vorbildlichen Landung, mit der sie diesmal lauten Beifall erntete.
»Nun, das war ein erfolgreicher erster Tag. Herzlichen Glückwunsch, Junge Vertikaliererin!«, sagte Leomido mit einem breiten Lächeln.
»Ich war gut, oder?«, fragte Oksa strahlend.
»Und wie!«, antwortete Gus bewundernd. »Deine Großmutter aber auch. Ich wusste gar nicht, dass du so gut fliegen kannst, Dragomira.«
»Ich bin ein bisschen eingerostet«, antwortete Dragomira und streckte sich. »Aber danke für das Kompliment, Gus. So, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich sterbe vor Hunger! Außerdem werden wir gerufen, glaube ich.«
Tatsächlich hängten sich die zwei Plemplems in einem der Glockentürme des Hauses gerade an das Seil und läuteten zum Abendessen, während die Plemplinen mit Geschirrtüchern wilde Zeichen machten. Leomido, Dragomira, Gus und Oksa kehrten bei Sonnenuntergang zum Haus zurück, erschöpft, aber frohen Herzens.
Eine Frage des Willens
I
ch schlage vor, wir beschäftigen uns heute mal näher mit dem Magnetus, Oksa«, sagte Leomido zu seiner Großnichte. »Mit seiner Hilfe kannst du Dinge in der Ferne bewegen, indem du mit dem inneren Atem und der Anziehungskraft verschmilzt.«
»Wie meinst du das mit dem ›inneren Atem‹?«, wunderte sich Oksa.
»Dein Geist ruft die Bewegung hervor«, antwortete ihr Großonkel. »Der Atem entsteht in dir und geht durch dich hindurch. Mithilfe deiner Augen, die als Mittler dienen, ist es, als würde dieser Atem fest werden. Er trägt und bewegt die Gegenstände genau so, als würdest du es mit deiner Hand tun.«
»Oh ja, natürlich!«, sagte Oksa mit gespielter Selbstverständlichkeit. »Natürlich! Natürlich!«
»Ich glaube, du hast schon ein bisschen geübt, es dürfte also kein Problem für dich sein.«
»Ein Problem? Was für ein Problem? Es gibt keine Probleme.«
Lehrer und Schülerin, das perfekte Team, gingen zur selben Stelle wie am Tag zuvor, dem Übungsgelände im Schutz der sanften, heidebewachsenen Hügel. Leomido hatte ein Sammelsurium von Utensilien in einem großen Sack mitgebracht. Als sie sah, dass sich neben Gus und Dragomira auch Geschöpfe zu ihnen gesellten, stutzte Oksa.
»Ich soll doch nicht etwa mit Lebewesen trainieren? Das geht nicht, Leomido, das kann ich nicht. Ich bin gegen Tierversuche!«, protestierte sie heftig.
»Tierversuche! Mein Gott, das kommt doch gar nicht infrage!«, sagte er laut lachend. »Die Geschöpfe sind nur mitgekommen, um dir zu helfen, und es geschieht sowieso nichts ohne ihr Einverständnis. Wir fangen mit unbelebten Gegenständen an und ich stelle dir im Lauf der Zeit immer schwierigere Aufgaben. Und jetzt los, Oksa, an die Arbeit!«
Leomido stellte eine Reihe von Gegenständen auf die Heide, und Oksa versuchte, sie vom Fleck zu bewegen. In der Tat war es nicht weiter schwer, sie hatte diese Technik schon oft eingesetzt. Sie musste einfach nur alle Aufmerksamkeit, die sie aufbringen konnte, auf den betreffenden Gegenstand richten und ihn dabei unverwandt ansehen, als könnten die Kraft und die Bewegung
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