Oksa Pollock. Die Unverhoffte
von Gus’ Satz war nicht mehr zu verstehen und Oksa schloss sich Gus’ leisem Schnarchen bald an. In dem kleinen Raum ganz hinten in Leomidos Anwesen schliefen die extravaganten Geschöpfe ebenfalls in ihren ausgepolsterten Fächern, nachdem auch sie die aktuellen Vorkommnisse ausführlich kommentiert hatten. Was für ein aufregender Tag!
Auf dem Lehrplan: Vertikalieren
E
ine blasse Sonne schien durchs Fenster. Oksa schlug die Augen auf und streckte sich ausgiebig. Wo war sie? Ach ja, bei Leomido! In dem hübschen kleinen Zimmer, in das sie gestern Abend schlaftrunken getaumelt war, als Gus’ Schnarchen sie auf dem Sofa im Salon noch einmal geweckt hatte … Ein Holzscheit glühte noch im Kamin und sein leises Knacken weckte Oksa endgültig. Sie stand auf, öffnete den Vorhang und riss das Fenster auf. Die Aussicht war fantastisch, ganz anders als aus ihrem Fenster in der Stadt. Hier war, so weit das Auge reichte, nur Grün zu sehen. Man hörte die Vögel zwitschern und das Rauschen des Meeres wie eine Hintergrundmusik etwas weiter weg. Herrlich!
»Einen guten Morgen, Junge Huldvolle! Hat der Schlaf seine Erholung getätigt?«
Oksa beugte sich aus dem Fenster und erblickte die beiden Plemplinen, die im Gemüsegarten standen, jede einen Salatkopf in der Hand.
»Mir geht’s sehr gut, danke!«, antwortete sie und winkte ihnen zu.
Sie fühlte sich tatsächlich fit und beschloss, gleich zu Gus zu gehen. Wenn ihre vagen Erinnerungen an den gestrigen Abend stimmten, schlief er im Zimmer nebenan. Sie legte ihr Ohr an seine Tür und klopfte.
»Die Tür ist offen!«, erklang Gus’ Stimme.
Gut gelaunt trat Oksa ein. Gus war gerade aufgewacht und rieb sich die Augen.
»Und? Sind die Kapiernix-Kämme durch deine Träume gegeistert?«, fragte sie und sprang auf sein Bett wie eine Katze.
»Hallo, Oksa! Ich habe geschlafen wie ein Stein.«
»Ja – ein Stein, der schnarcht wie ein Bär«, entgegnete Oksa. »Selbst durch die meterdicke Steinmauer konnte ich dich hören.«
»Ist ja schon gut«, brummelte Gus und verkniff sich ein Lächeln.
Die beiden Freunde standen auf, hüllten sich in dicke Morgenmäntel und gingen in die Küche hinunter. Die Plemplems bereiteten gerade das Frühstück zu und zankten sich dabei über die schmackhafteste Weise, Toast zuzubereiten. Leomido und Dragomira, die in ihren langen Hauskleidern aus Seidendamast sehr aristokratisch wirkten, tranken eine Tasse dampfend heißen Tee.
»Guten Morgen, ihr zwei! Habt ihr gut geschlafen?«, fragte Dragomira.
»Sehr gut«, antwortete Gus und gähnte. »Es ist super hier, vielen Dank für die Einladung!«
Heißhungrig stürzten sich die beiden auf das Frühstück.
»Wie wäre es, wenn wir das Programm für den heutigen Tag besprechen?«, schlug Leomido vor. »Dafür müssten sich unsere lieben Plemplems allerdings einen Tick leiser unterhalten!«
Das ließen sich die Geschöpfe nicht zweimal sagen. Sofort kehrte Ruhe ein, und Leomido ergriff das Wort: »Du bist hier, um einige Dinge zu lernen, liebe Oksa. Du hast einen Einblick in die Welt der Rette-sich-wer-kann aus Edefia bekommen, der du durch deine Herkunft und deine Anlagen angehörst. Nun musst du deine Fähigkeiten vervollkommnen, um sie unter Kontrolle zu bekommen und nicht zum Spielball impulsiver Gefühle wie Ärger oder Angst zu werden. Kontrolle und Selbstbeherrschung sind die Schlüssel zur Macht, weißt du.«
Bei diesen Worten schmierte Leomido sich sorgfältig einen Toast.
Oksas Blick wurde von dem großen Ring, den ihr Großonkel an der rechten Hand trug, angezogen. Ein wunderschöner Ring mit einem seltsamen grauen Stein in einer silbernen Fassung, der ihre Neugier weckte. Diesen Ring habe ich irgendwo schon mal gesehen, sagte sie sich.
Doch da griff Dragomira Leomidos Worte auf und riss sie aus ihren Gedanken.
»Du musst wissen, liebe Enkelin, dass Leomido sehr begabt ist. In Edefia war er ein geachteter Lehrer, ein Fachmann auf seinem Gebiet. Nein, Leomido, du brauchst nicht zu erröten, es stimmt. Er wird es in erster Linie sein, der dir im Umgang mit deinen Kräften zur Seite steht.«
»Ich schlage vor, dass wir eine kleine Aufstellung deiner Fähigkeiten machen, damit ich sehe, was du schon kannst«, sagte ihr Lehrer. »Du kommst doch mit, Gus, oder?«
»Natürlich komme ich mit, Herr Fortensky!«, rief Gus und sprang sofort auf.
»Ach, ich bitte dich, du gehörst zum großen Kreis unserer Familie, nenn mich also Leomido.«
Eine halbe Stunde später waren sie alle
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