Oksa Pollock. Die Unverhoffte
entsprochen, die sie damals empfunden hatte. Und sie konnte sich noch gut an ihr Erstaunen erinnern.
»Das gibt es doch nicht!«, flüsterte sie und entfernte sich ein Stück von ihrem schlafenden Großonkel. »Ich fasse es nicht!«
Als die weißen Wolken bedrohlich bleifarben geworden waren, begriff Oksa genau, was Leomido gemeint hatte. Die Helligkeit nahm im selben Tempo ab, in dem düstere, von dunkelvioletten Streifen durchzogene Gewitterwolken den Himmel bedeckten. Die mit Regen gefüllten Wolken verfinsterten sich zusehends und kamen grollend auf Oksa zu. Bis jetzt hatte nur eine leichte Brise geweht, doch nun kam ächzend ein Wind auf, als würde er ihr ferne Schreie zutragen.
»Oh nein! Bitte nicht!«, flüsterte sie und hielt sich instinktiv die Ohren zu.
Doch es half nichts, das hatte Oksa schon begriffen. Denn es waren die furchtbaren Schreie, die sie früher schon gehört hatte und von denen sie jedes Mal Gänsehaut bekam. Diesmal war es noch schlimmer als zuvor, die Schreie schlugen wie Blitze in ihren Kopf ein. Und als sie hörte, wie ferne Frauenstimmen ihren Namen skandierten, glaubte sie, verrückt zu werden. Die Stimmen klangen zwar, als kämen sie von weit her, doch sie wusste, dass sie in Wirklichkeit aus ihrem Innern kamen. Ein echter Albtraum … Sie sah zu den finsteren Wolken hoch, während heftiger Regen auf die runde Kuppe des Hügels prasselte, auf dem sie stand.
Der Guss dauerte nur eine knappe Minute. Dann klarte der Himmel mit sagenhafter Geschwindigkeit auf und war wieder so strahlend blau wie zuvor. Vergessen war der Sturzregen, der soeben genau an dieser Stelle niedergegangen war. Benommen und durchnässt drehte Oksa sich um und stand direkt vor Leomido, der sich gerade das Gesicht mit einem großen Stofftaschentuch abtrocknete. Noch ganz benommen von ihrem Erlebnis, sah sie ihn erschreckt an.
»Leomido! Ich glaube … ich glaube, dass ich verstanden habe«, flüsterte sie in großer Erregung.
»Oksa, meine Kleine!«, sagte er mit bebender Stimme. »Deine Größe ist unermesslich. Du bist die größte Huldvolle von allen. Bestimmt!«
Als sie zum Haus zurückgingen, kamen ihnen Gus und Dragomira mit Handtüchern über dem Arm entgegen.
»Mein Gott, ihr seid doch wohl nicht in diesen Wolkenbruch geraten!«, rief Dragomira.
Leomido und Oksa standen beide noch unter Schock. Sie sagten gar nichts, sondern hüllten sich nur wortlos in die Handtücher.
»Geht schnell ins Warme, bevor ihr krank werdet!«
Oksa brauchte eine Weile, ehe sie sich, in trockene Kleidung gehüllt und vor dem Kamin sitzend, von dem merkwürdigen Erlebnis erholt hatte. Sie konnte den neugierigen Blick nicht ignorieren, den ihre Großmutter Leomido zugeworfen hatte, genauso wenig wie seine Reaktion darauf – ein unmerkliches Kopfnicken. Ja, sie war das gewesen … Die Plemplems brachten ihr eine heiße Zitrone, sie trank einen Schluck. Dann erst bemerkte sie, dass Gus sie schweigend und besorgt musterte. Da riss sie sich zusammen, fegte die Verwirrung beiseite, von der ihr Herz und ihr Geist erfüllt waren, und rief: »Was für ein Sauwetter! Beim nächsten Mal nehme ich einen Regenschirm mit!«
»Dieses Mikroklima hier ist schon irre«, erwiderte Gus mit undurchdringlicher Miene. »An einer Stelle gibt es einen Mordsguss und hundert Meter weiter fällt kein Tropfen.«
»Gus …«, stammelte Oksa.
»Ist schon gut, Oksa, ich hab verstanden. Und jetzt los, trink deine heiße Zitrone!«
Ein unglücklicher Freund
A
n diesem Abend riefen Marie und Pavel Pollock an, und nahezu euphorisch erzählte Oksa ihnen bis in alle Einzelheiten, was sie an den ersten beiden Tagen schon alles gelernt hatte.
»Du bist aber hoffentlich vorsichtig?«, fragte ihr Vater besorgt.
»Natürlich, Papa! Wenn du wüsstest, wie gut Leomido auf mich aufpasst. Er ist schlimmer als du, ehrlich!«
»Oh, du freches Mädchen, so behandelst du also deinen ängstlichen alten Vater! Ich armer Mann, keiner versteht mich«, jammerte Pavel.
»Immer musst du übertreiben, Papa«, antwortete Oksa lachend.
Pavel stieß ein klägliches Geheul aus, und im Hintergrund hörte Oksa ihre Mutter, die ebenfalls lachte.
»Kannst du auch alles, was ich kann, Papa?«, fragte Oksa nun wieder ernst.
»Wenn ich sehe, wie wenig mitfühlend deine Mutter reagiert, frage ich mich gerade, ob ich nicht wieder damit anfangen sollte. Als Druckmittel, weißt du? Damit sie sieht, mit wem sie es zu tun hat.«
Sie merkte, dass ihr Vater ihrer Frage auswich,
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