Oktoberfest
ungefähr einhundert Metern Entfernung befand sich in gut einem Meter Höhe der Abfluss eines Seitenkanals, der als Überlaufschutz für ein Regenwasser-Sammelbecken fungierte. Ein kleines Rohr. Er würde kriechen müssen. Dann in ein Fallrohr. Abwärts bis zum Wasserspiegel, danach müsste er tauchen. Die Rattensperre würde er mit seinem Messer schon beseitigen können. Weiter unter Wasser, die Steigleitung auf der anderen Seite wieder aufwärts. Er würde unter irgendeinem Kanaldeckel hochkommen. Wo dieser sich befand, wusste er nicht genau. Irgendwo in der Nähe der Bahngleise, die zum Hauptbahnhof führten. Wenn er den Kanaldeckel erreichte, wäre er an der Oberfläche.
In Sicherheit.
Während er rannte, bemerkte er irritiert, dass das Geräusch seiner Schritte sich geändert hatte. Statt des leisen Schmatzens war jetzt ein lautes Platschen zu hören. Er senkte kurz den Blick und sah seine Stiefel bei jedem Schritt ins Wasser klatschen. Auch die Strömung schien zugenommen zu haben.
Merkwürdig. War der Wasserspiegel gestiegen?
Das konnte eigentlich nicht sein. Nicht so schnell. Das waren ja mindestens zehn Zentimeter. Egal. Er konzentrierte sich wieder auf sein Ziel: die kleine Röhre, die in den Hauptkanal mündete.
Schon konnte er die Öffnung im grünlichen Licht seiner Nachtsichtbrille erkennen.
Vielleicht noch zwanzig Meter.
*
Iljuschin trug Kopfhörer. Er saß im Kommandostand vor einem Monitor. Seine Finger huschten über die Tastatur. Auf seinen Knien lag ein Grafiktablett. Er schaltete zwischen den einzelnen Mikrofonen von Okidadses Audiosystem hin und her. Was er hörte, bereitete ihm großes Vergnügen. Deutlich konnte er seine Erektion spüren.
Okidadse musterte den Gesichtsausdruck des Nahkampfspezialisten. Iljuschins Züge hatten etwas Andächtiges, etwas Entrücktes. Als höre er eine wunderbare Symphonie. Okidadse wandte sich ab. Das war einer der Momente, in denen Iljuschin ihm wirklich Angst machte.
Das hatte nichts mehr mit professioneller militärischer Arbeit zu tun. Das war der schiere Irrsinn.
Plötzlich verfinsterte sich Iljuschins Miene. »Da rennt einer. Da versucht einer, abzuhauen! Da will mir einer mein schönes Finale versauen«, sagte Iljuschin mit der viel zu lauten Stimme eines Menschen, der Kopfhörer trägt. Der Nahkampfspezialist sah konzentriert auf den Monitor vor sich. Der Bildschirm zeigte die Lage der versteckten Minen. Seine Augen suchten nach der passenden Nummer.
»Komm zu Papa«, hörte Okidadse die viel zu laute Stimme sagen.
Dann tippte Iljuschin mit dem Stift auf das Grafiktablett, um die Mine zu zünden.
*
Noch fünf Schritte.
Der Kapitän hörte in seinem Rücken einen scharfen, hellen Knall.
Noch drei Schritte.
Er holte mit beiden Armen Schwung. Wolfgang Härter hechtete mit einem gewaltigen Sprung in die enge Röhre. Ein aus dem Mauerwerk herausstehendes Metallteil riss den Anzug an seinem linken Oberarm auf. Er achtete nicht auf den Schmerz. Knallend landete er auf den Knie- und Ellbogenschützern.
In diesem Moment hörte er die Schreie der armen Kerle von Trupp Blau, die das Pech hatten, nicht sofort in Stücke gerissen worden zu sein. Härter robbte tiefer in die Röhre hinein. Nur Bruchteile einer Sekunde später detonierte im Hauptkanal hinter ihm eine weitere Mine.
Mund auf, Augen zu!
Die heiße Druckwelle fuhr über ihn hinweg wie eine Dampfwalze.
Mit unglaublicher Wucht wurde er zu Boden gedrückt. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Der Rand seines Helms schlug auf den steinernen Boden. Er spürte, wie die Photonenpumpe in der Brusttasche seiner Schutzweste zu Bruch ging. Splitter schlugen prasselnd ins Mauerwerk.
Er konnte den Atemreflex nicht unterdrücken. Als glühende Luft in seine Lungen fuhr, glaubte er, sein ganzer Brustkorb stünde augenblicklich in Flammen. Er spürte die Umrisse seiner gepeinigten Lungen in seinem Inneren. Er zwang sich, nicht zu atmen. Der Sauerstoffmangel machte sich sofort bemerkbar.
Er hatte einen Sprint hinter sich, war außer Atem. Sein Körper brauchte schnellstens Sauerstoff.
Ein Knirschen. Steine lösten sich aus der Decke und fielen auf ihn. Er kroch weiter. Noch immer hielt er die Luft an. Ein weiterer Stein traf seine linke Schulter. Doch er hörte nicht das befürchtete Knacken. Seine Knochen hatten gehalten. Dennoch tat es höllisch weh. Einfach ignorieren. Noch einen Meter weiter.
Dann stürzte mit einem ohrenbetäubenden Getöse die Röhre hinter ihm ein. Eine Wolke aus
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