Oktoberfest
später drehte der Bug der »Bayern« in nordöstliche Richtung, auf die Insel Sylt zu. Die beiden Gasturbinen schoben knapp fünftausend Tonnen grau lackierten deutschen Stahl mit zweiundfünfzigtausend PS auf neuem Kurs durch die aufgewühlte Nordsee.
Thomsen wandte sich wieder an Härter. »Also, wie ist die Situation der Geisel, Wolf?«
Härter setzte an der Stelle ein, an der er unterbrochen worden war. »Die Geisel wird in einem Ferienhaus an der Westküste festgehalten. Von der Landseite her wird das gesamte Gebiet von Einheiten des SEK Schleswig-Holstein, von GSG 9 und KSK abgeriegelt. An der Ostseite der Insel bräuchten wir zusätzlich ein schnelles, flachwassertaugliches Boot, das eventuelle Flüchtige abfängt. Haben wir dort ein Schiff mit hoheitlichen Befugnissen?«
»In Hörnum liegt der Zollkreuzer ›Kniepsand‹, der ein Beiboot mit sich führt.«
»Hervorragend! Die Jungs vom Wasserzoll sollen sich aufrödeln wie für den Dritten Weltkrieg und sich zum Auslaufen bereitmachen. Weitere Kampfschwimmer werden an Bord der ›Kniepsand‹ gehen. Dann haben wir ausreichend Feuerkraft auf der Wattseite. Vor allem aber brauchen wir dein Schiff, denn wenn es während des Rückzugs ungemütlich wird, brauchen wir Unterstützung. Eventuell wirst du die Schlagkraft der ›Bayern‹ entfesseln müssen.«
Thomsen sah Härter unglücklich an. »Du weißt ja, wie ich das sehe. Ich habe mein ganzes Leben mit diesen Waffen geübt, in der Hoffnung, dass diese Demonstrationen von Professionalität dazu führen, dass wir diese Waffen niemals einsetzen müssen. Diese Hoffnung war wohl trügerisch.«
»Sieht so aus, Broder. Du kannst mir glauben, dass auch ich nicht glücklich bin, wenn ich einen Feuerschlag gegen unsere Küste befehlen muss.«
»Noch etwas«, Thomsen machte eine Pause, »ein großes Problem werden wir mit dem Wetter bekommen. Ein Sturmtief kommt aus Nordwesten direkt auf die Deutsche Bucht zu. Zehn Beaufort, in Böen zwölf sind angesagt. Starker Regen. Dunkelheit. Miserable Sicht.« Der Kommandant seufzte. »Aber ein lauer Dreier aus Ost wäre wohl zu viel verlangt.«
Härter nickte. »Ich konnte die Waschküche am Horizont schon sehen. Man kann es sich leider nicht aussuchen.« Ein schwaches Lächeln. »Aber Kampfschwimmer warten nicht auf gutes Wetter. Im Gegenteil! Kampfschwimmer können unter den widrigsten Bedingungen operieren, und sie nutzen diese Bedingungen zu ihrem Vorteil und verwenden sie gegen den Feind.«
*
Oleg Blochin konnte keinen Schlaf finden. Gleich nach seiner Ankunft hatte er zwei der Tabletten genommen, die Dr. Kusnezow ihm mitgegeben hatte. Der Schmerz in seiner Schulter ließ daraufhin ein wenig nach. Er hatte etwas gegessen, geduscht und sich dann hingelegt.
Nun lag er in dem riesigen Bett im ersten Stock des Hauses. Die Jalousien waren heruntergelassen und sperrten den phantastischen Blick über die Adria aus. Doch die innere Unruhe wollte nicht vergehen. Dabei war bis zu diesem Moment alles genau so gelaufen, wie er es geplant hatte.
Trotzdem fühlte er sich, als ob ein Einsatz unmittelbar bevorstünde, und nicht, als ob einer erfolgreich abgeschlossen worden war. Du bist hier völlig sicher, redete er sich immer wieder ein. Alle, die von diesem Haus wissen, sind tot. Niemand kann dich hier finden.
Aber sosehr er sich auch zu beruhigen versuchte, immer wieder kamen die Zweifel zurück. Vor allem eine Frage trieb ihn um: Warum hatte Viktor Slacek noch nichts von sich hören lassen? Warum blieb die Vollzugsmeldung des Killers aus? Das passte gar nicht zu Slacek. Viktor Slacek war immer ein zuverlässiger Mann gewesen. Ein Mann mit Prinzipien.
Aber auf dem Anrufbeantworter war keine Meldung.
War etwas schiefgegangen?
Oleg Blochin schloss die Augen und versuchte einzuschlafen.
10:33 Uhr
Werner Vogel musste nur kurze Zeit warten, bis sein Wagen auf einen der Autozüge verladen wurde, die zwischen der Insel und dem Festland über den Hindenburgdamm pendelten. In Westerland angekommen, folgte er den Schildern nach Hörnum ganz im Süden der Insel.
Windböen rüttelten an dem Ford Mustang. Die Scheibenwischer liefen im höchsten Gang.
Er passierte den Ort Rantum. Kurz vor der Einfahrt nach Hörnum entdeckte er in einiger Entfernung vor sich eine Straßensperre der Polizei. Er fuhr auf einen der Parkplätze entlang der Straße. Vogel wollte sich nicht zu erkennen geben. Er wollte zu Amelie. Er war ihr Retter. Seine Entscheidung war längst gefallen: kein
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