Oktoberfest
als er diesen Ort erschuf.« Er sah seine Geliebte an. Überwältigt von der Intensität seiner Gefühle legte sich ein feuchter Schleier über seine Augen.
»Da wir gerade über unsere Väter sprechen: Von meinem Vater habe ich gelernt, dass glückliche Erinnerungen das Wertvollste sind, was ein Mensch besitzen kann. Das beginne ich auch erst jetzt zu verstehen.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Und eines weiß ich, ich werde die Erinnerungen an dich und diesen Ort immer in mir tragen«, fuhr er fort. Dann ließ er seinen Blick über die gemächliche Dünung des Indischen Ozeans schweifen. Lächelnd wandte er sich wieder zu Amelie und blickte ihr lange in die Augen.
»Vielleicht werden wir beide ja langsam erwachsen.«
Wortlos lehnte sich Amelie über den Tisch nach vorne. Werner kam ihr entgegen.
Sie küssten einander.
*
Werner hatte sich noch niemals zuvor einem anderen Menschen emotional derart geöffnet. Er hatte das gar nicht vorgehabt, dennoch war es geschehen. Ungeplant. Er hatte die Angst, verletzt zu werden, die ihn früher immer davon abgehalten hatte, sich einer Frau völlig hinzugeben, einfach vergessen. Und als er sich mit Leib und Seele fallenließ, fing Amelie ihn auf. Auch ihre Gefühle für Werner waren zunehmend stärker geworden. Etwas Tiefes und Seltenes hatte sich zwischen ihnen entwickelt. Als hätten sie einen wertvollen Schatz entdeckt. Und sie waren beide entschlossen, diesen Schatz zu bewahren und zu mehren.
Als sich ihr Urlaub dem Ende zuneigte, erfüllte zwar ein wenig Wehmut ihre Gemüter. Gleichzeitig aber wussten sie, dass sie ein ungesagtes Versprechen aus diesem Urlaub mitnehmen würden.
Beide bemerkten, dass etwas mit ihnen geschehen war.
Etwas Großes.
Unerklärlich.
Ein Mysterium.
Den Gast von Nummer 42 bemerkten sie nicht .
Das war auch schwer möglich. Nicht bemerkt zu werden war ein wichtiger Bestandteil des Berufes, den der Gast von Nummer 42 ausübte. Und er war nicht zum Spaß auf dieser Insel. Er hatte zu arbeiten. Und wie immer tat er das sehr präzise, effizient und zielstrebig.
Unbemerkt.
Lautlos.
Gewaltsam.
Mauritius. Ein Refugium für Superreiche. Der Gast von Nummer 42 war rund um den Erdball tätig. Aber hier hatte er noch nie gearbeitet. Umso besser. Das Ziel seines aktuellen Projekts war ein älterer Herr, der auf der Insel ein Anwesen besaß. Aufsichtsratsmitglied mehrerer europäischer Großbanken und global agierender Pharmakonzerne. Der Gast von Nummer 42 hatte sich für einen Selbstmord entschieden.
Das war stets seine erste Wahl, wenn es sich realisieren ließ.
Dabei wechselte er ständig die Methodik. Es war zwar kaum vorstellbar, dass jemand auf die Idee kam, seinen Modus operandi überhaupt nur zu suchen. Doch selbst wenn das geschehen sollte, dann würde niemand einen solchen Modus operandi, eine Besonderheit oder Regelmäßigkeit in der Art seines Vorgehens, entdecken können.
Für sein aktuelles Projekt hatte er sich wieder etwas Besonderes einfallen lassen: Eröffnung der Schlagader an der Innenseite des linken Oberschenkels.
Nur ein kleiner Schnitt für ihn, aber ein großer Schnitt für sein Opfer. Tod durch Verbluten. Das Ziel seines aktuellen Projektes würde mit einem Skalpell in der rechten Hand aufgefunden werden. Passend zur Tätigkeit in der Pharmabranche. Das machte für ihn den Reiz seines Berufes aus.
Variatio delectat.
Der Einzige, der sich an den Gast von Nummer 42 später hätte erinnern können, war der Küchenchef. Er hatte den Mann zwar nie zu Gesicht bekommen, denn der verließ die Suite Nummer 42 nur sehr selten. Und wenn, dann im Schutz der Dunkelheit. Das Essen ließ er sich auf seinem Zimmer servieren. Aber der Mann war, was das Essen betraf, ein heikler Gast. Er hatte einen sehr feinen Geschmack. Einen Fisch, der bereits einen Tag alt war, hatte er zurückgehen lassen. Mit der spitzen Bemerkung, er sei es nicht gewöhnt, verfaultes Essen vorgesetzt zu bekommen.
Und der Gast von Nummer 42 hatte einen Tick, was das Essen betraf: Er aß nichts Rohes.
*
Es war Sommer geworden. Die Luft flimmerte vor Hitze. Josef Hirschmoser saß in seinem Büro und rieb sich die Hände. Er würde im Vergleich zum Vorjahr viel Geld sparen. Sein Bauleiter hatte gerade angerufen. Sie hatten den Fortschritt der Aufbauarbeiten für das Oktoberfest besprochen. Auf der Theresienwiese ging es gut voran.
Letztes Jahr hatten sie ihre Handwerker über eine Zeitarbeitsfirma gemietet, alles Männer mit mangelhaften
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