Oktoberfest
dass jemand die Zelte verlässt. Wenn das nicht geschehe, werde ein zufällig ausgewähltes Zelt durch den Einsatz von Giftgas exekutiert.
Der Oberbürgermeister telefonierte mit dem Polizeipräsidenten. »Das sind merkwürdige Geiselnehmer«, sagte der Polizeipräsident gerade. »Die ersten, von denen ich höre, die nach mehr Polizei am Tatort verlangen. Was mögen die vorhaben?«
»Dies ist nicht der Zeitpunkt, um zweifelhafte Witzchen zu reißen, Herr Polizeipräsident.« Der Oberbürgermeister legte seine Stirn in Falten. Seine Stimme klang nachdenklich. »Beten Sie lieber, dass es uns gelingt, den Grund für die Polizeiaktion lange genug geheim zu halten. Stellen Sie sich vor, die Presse bekäme jetzt Wind von der Sache.«
*
Mit der Polizeiaktion meinte der Oberbürgermeister das Schauspiel, das gerade vor den Augen von Alois Kroneder ablief.
In unauffälligen Reisebussen wurden die Beamten der Bereitschaftspolizei aus ihren Kasernen zur Theresienwiese gebracht. Hundertschaften. Die Planungen wurden auf der Wiesn-Wache koordiniert. Das zentrale Problem bestand darin, das Oktoberfest zu evakuieren, ohne dass eine Panik ausbrach. Das war Kroneder klar.
Ebenso musste in den Zelten eine Panik verhindert werden.
Kroneder war es völlig rätselhaft, wie es den Tätern gelungen sein sollte, das Benediktiner-Zelt unter ihre Kontrolle zu bringen. Alle polizeiinternen Szenarien gingen davon aus, dass es bei einer Bedrohung der Zeltinsassen, beispielsweise durch Feuerwaffen, sofort zu einer Massenpanik kommen würde.
Das wäre eine unglaubliche Katastrophe. Die Leute würden sich zu Tausenden gegenseitig tottrampeln.
*
Der Ministerpräsident beruhigte sich nur langsam wieder. Sein Büroleiter hatte recht. Mit der Frage, wie das hatte passieren können, kamen sie im Moment nicht weiter. Vermutlich war die Lage auch gar nicht so ernst, wie sie im Moment eingeschätzt wurde.
Jetzt waren Besonnenheit und Umsicht gefragt. Der Innenminister war inzwischen auf dem Weg zu ihm. Entscheidungen mussten getroffen werden.
»Wir brauchen die Beamten des Sondereinsatzkommandos der Polizei vor Ort. Vielleicht ist es ja möglich, das Benediktiner-Zelt zu stürmen. Oder die anderen Zelte zu evakuieren.«
»Das SEK ist bereits verständigt, Herr Ministerpräsident. Auch die Evakuierung der Außenbereiche der Wiesn ist angelaufen. Wir werden …«
Der Ministerpräsident unterbrach ihn.
»Wie viele Männer sind vor Ort?«
»Inzwischen müssten es an die zweihundert sein. In einer halben Stunde haben wir siebenhundert Polizisten auf dem Gelände. Das sind fünfzig Mann für jedes Zelt. Das müsste zunächst ausreichen.«
»Wenn sich die Verhandlungen die ganze Nacht hinziehen, brauchen wir Decken für die Leute in den Zelten. Und medizinische Versorgung.«
»Das Rote Kreuz ist informiert. Auch die Krankenhäuser wissen Bescheid. Wir ziehen im Moment Rettungssanitäter aus ganz Bayern zusammen.«
Der Ministerpräsident nahm seine Brille ab und massierte sich mit der anderen Hand die Stirn. »Haben wir eigentlich irgendwelche Forderungen erhalten? Wissen wir, was diese Leute wollen? Wissen wir, wer diese Leute sind? Oder wie viele? Oder wie sie bewaffnet sind? Ob es überhaupt Giftgas gibt?« Er hielt kurz inne. »Nein, das wissen wir nicht«, beantwortete er seine Fragen selbst. »Wir wissen überhaupt nichts.«
Die Sekretärin streckte den Kopf durch die Tür.
»Ihre Verbindung nach Berlin, Herr Ministerpräsident. Der Bundesinnenminister auf Leitung eins.«
19:05 Uhr
Die Räumung des Festgeländes kam wider Erwarten gut voran. Die Polizisten waren in Gruppen zu sechs Mann unterwegs und sprachen die Besucher auf Deutsch, Italienisch und Englisch an. Sämtliche Beamten der Wiesn-Wache waren im Einsatz.
Die Bitte, das Festgelände ruhig, aber zügig zu verlassen, wirkte.
Überall waren Polizisten zu sehen, was der Aufforderung der Beamten Nachdruck verlieh. Manche Gäste, die zunächst nicht gehen wollten, wurden innerhalb von wenigen Minuten mehrfach von verschiedenen Patrouillen angesprochen. Das überzeugte sie davon, dass etwas Ernstes passiert sein musste.
Alois Kroneder hatte den Einsatz der Lautsprecherwagen im letzten Moment verhindern können. Die Gäste, die in den Zelten saßen, durften ja nichts bemerken. Die Männer der Bereitschaftspolizei, die noch immer mit Bussen herangekarrt wurden, besetzten Zelt um Zelt. Sie riegelten die Eingänge ab.
»Wir haben ein Sicherheitsproblem. Bitte bleiben Sie im Zelt.
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