Oliver Hell - Abschuss (Oliver Hells erster Fall) (German Edition)
bemerkte einer der Männer im Tower den Mann, der sich torkelnd auf die Start– und Landebahn zubewegte. Der Mann war gefesselt und trug einen Sack über dem Körper. Sofort alarmierte er die Polizei und versuchte die Maschine, die noch ungefähr zweihundert Meter von dem Mann entfernt war und gerade startete zu warnen. Der Pilot sah vor sich kurz vor der Startbahn einen Menschen laufen. Beim Start gab es keinen Autopilot. Der Pilot schob den Hebel nach vorne, die Triebwerke sprachen sofort an.
Heulen.
Der Schub, den die beiden Triebwerke der Boeing 737G entwickelten, reichte aus um die Maschine kurz bevor er den Mann, der jetzt mitten auf der Startbahn stand, mit dem Fahrwerk getroffen hatte, hochzuziehen.
Die Boeing kippte etwas nach links, die Tragfläche drohte den Boden zu streifen, doch der Pilot fing sie geschickt ab und gab wieder Vollgas. Er versuchte den Mann auszumachen, doch war er unter dem Vogel verschwunden. Er schrie in das Mikro „Hab ich ihn getroffen? Wo kam der her? Verdammt, wo kam der her?“
Der Tower antwortete mit Verzögerung. „Nein. Er bewegt sich noch.“
Bündgen stand durch den Überfall unter Schock. Wo war der Mann? Ließ er ihn wieder im Glauben sicher zu sein und erschoss ihn hinterrücks? Er stolperte vorwärts. In seine Todesangst hinein hörte er plötzlich einen Höllenlärm von links auf sich zukommen. Blitzschnell. Er warf sich instinktiv zu Boden. Er hörte den Höllenlärm über sich hinwegziehen. Begleitet von einem wahnsinnigen Luftstrom. Es zerriss ihm fast das Trommelfell.
Ein Flugzeug dachte er, ein Flugzeug. Ich bin auf dem Flughafen. Der Killer wollte mich umbringen.
Die Passagiere bemerkten nichts von der Beinahetragödie. Sie glaubten an eine Windböe. Ein kurzes Raunen zog durch die Maschine. Einige von ihnen schauten auf dem Fenster, sahen aber nichts.
Bündgen rührte sich nicht mehr. Das Adrenalin machte ihn ohnmächtig.
Der Tower ordnete sofort ein Start - und Landverbot an. Daraufhin kreisten die Ferienflieger in Warteschleifen über dem Flughafen.
Eine Minute später waren zwei Wagen der Bundespolizei bei Bündgen. Ein Beamter rüttelte Bündgen wach und half dem Mann auf die Beine. Man befreite ihn von seinen Fesseln und zog ihm den Sack über den Kopf. Die Polizisten erschraken und wichen zurück, als sie das Gesicht des Mannes sahen. Blutverschmiert. Mit schwarzen ungelenken Linien. Diese Linien formten wieder Worte. Hesse hatte etwas geändert. Er hatte nicht die Stirn tätowiert. Die Worte waren auf die Wangen geschrieben. Dort konnte keine Mütze sie verbergen. Die Worte ‚Perverser‘ und ‚abartig‘ waren noch frisch und bildeten kontrovers verlaufende, blutige Hügelkämme auf den Falten von Bündgens Gesicht. Er sah die Blicke der Beamten und fiel wieder in Ohnmacht.
Hesse hatte das alles nicht mitbekommen. Da er den Einsatz der Bundespolizei erwartet hatte, war er bereits auf dem Weg zu seinem nächsten Ziel. Dieser Weg machte ihm viel mehr Kopfzerbrechen. Bündgen hatte er seinem Schicksal überlassen. Entweder starb er oder er überlebte. Das war ihm einerlei. Aber jetzt ging es um seine Vergangenheit. Jetzt ging es darum, warum er hier war. Jetzt ging es darum, warum er zum Mörder geworden war. Und er würde denjenigen damit konfrontieren.
Auf dem Besucherdeck des Flughafens stand Maier und rief gerade die Redaktion an.
„Ja, ein Beinaheunfall. Ein gefesselter Mann ist auf die Startbahn getorkelt. Ich habe Fotos. Die Maschine konnte noch gerade ausweichen. Ich bin dran. Haltet mir die Titelseite frei. Ja die Titelseite, ich hänge das ganz hoch.“
Er drückte das Gespräch weg und lies den Arm sinken.
Der Journalist hatte die Nacht auf dem Flughafen verbracht. Warum wusste er nicht. Manchmal hatte er journalistischen Dusel, so wie er es nannte. Diesmal auch. Er hatte sich während der Ermittlungen der gestrigen Nacht immer in der Nähe von Kommissar Hell aufgehalten. Unbemerkt. Als die Tatortermittler den BMW von Hesse abtransportiert hatten, ging er herüber ins Terminal und trank in einem Café, was die ganze Nacht geöffnet war, einen Espresso nach dem anderen. Als um sechs Uhr die Besucherterrasse öffnete, stieg er die Treppen hinauf um frische Luft zu schnappen. Er beobachtete gedankenverloren die startenden Maschinen. Dann sah er den Mann und zückte sein I-Phone. Der Mann und die Maschine waren recht weit entfernt und klein. Aber das war egal, die Konstellation zählte. Damit konnte man punkten. Mit solchen
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