Oliver Hell - Abschuss (Oliver Hells erster Fall) (German Edition)
Vergangenheit an. Gestern hatte er zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder eine Kirche betreten. Er saß auf der Bank und versuchte mit Gott zu sprechen. Doch auch diesmal hatte er nur den Widerhall seiner gehauchten Worte gehört und vergebens auf eine Antwort gewartet. Wie so eine Antwort auch immer ausfallen sollte. Früher sprang sein Herz in der Kirche vor Freude und fühlte sich befreit an. Aber heute war es keine Freude mehr. Nicht nur der biblische Gott hatte sich von ihm gewendet, dessen Stimme er zugegebenermaßen noch nie gehört hatte, auch alle anderen Stimmen waren verstummt. Es gab nichts mehr, was in ihm sprach. Nichts mehr, was zu ihm sprach. Er konnte nur beten und auf Antwort hoffen. Heute saß er wieder in der Kirche. Aber nicht auf der Bank, sondern er kniete vor dem Altar. Und er wartete. Wartete auf seinen Vater.
In seinem Gehirn leuchteten unentwegt irgendwelche Warntafeln auf. Auf denen stand ‚Vorsicht‘ oder ‚Vorsicht, die Polizei wartet auf dich‘ oder ‚Vorsicht, dein Vater hat dich verraten‘. Doch nichts davon traf zu. Hier schließ sich also der Kreis, dachte er. Als sich die Seitentüre schließlich nach einer Viertelstunde öffnete, spannte sich jeder Muskel in seinem Körper. Er hörte die vertrauten Schritte seines Vaters. Der trat in den Mittelgang, kam auf ihn zu. Noch hatte er ihn nicht erkannt. Vier Meter, bevor er ihn erreicht hätte, blieb er stehen.
„Dass Du dich hierher traust.“
Er stand noch immer auf demselben Fleck. Hesse stand auf und drehte sich herum. Er hatte seinen Vater seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie er sich verändert hat, dachte er. Sein Haar war mittlerweile grau, die Augen schienen viel tiefer in ihren Höhlen zu sitzen. Auch wirkte er irgendwie kleiner, zusammengesunken. Sein Vater war jetzt einundsechzig Jahre alt. Als er ihn das letzte Mal sah, war er fünfundfünfzig Jahre alt gewesen. Alterte man in den Fünfzigern schneller, oder fiel es dann nur mehr auf?
„Guten Morgen Vater.“
„Was willst Du hier? Du bringst Waffen mit in meine Kirche.“
„Nein.“ Tatsächlich war Hesse unbewaffnet.
„Ich weiß nicht, ob Du mir leidtust, oder ob ich nur wütend auf dich bin.“
„Vater, bitte lass deine Sprüche. Die habe ich im Leben oft genug gehört.“
„Es sind keine Sprüche. Wenn ich sehe, was aus dir geworden ist, dann tut mir mein Herz weh.“
„Was ist denn aus mir geworden?“
„Du tötest Menschen und du wagst es, hier aufzutauchen.“
„Wenn du jetzt ein katholischer Priester wärst, dann könntest du mir die Beichte abnehmen.“
„Was ich selbst dann nicht tun würde. Du wirst deine gerechte Strafe bekommen. Da bin ich mir sicher.“
„Ja, Vater. Ich weiß, was Du denkst. Du hast es mir oft genug gesagt.“
„Wenn du das weißt, warum bist du dann hier?“
„Weil ich dir etwas mitzuteilen habe.“
„Das möchte ich gar nicht hören. Ich möchte, dass Du gehst.“
„Wo wir gerade davon sprechen, ich habe mir auch so viel von dir sagen lassen müssen. Da hast Du auch nicht gefragt, ob ich das hören möchte. Du hast mir deine Botschaften ins Hirn gehämmert.“
„Du hast von mir den Glauben gelehrt bekommen, den Glauben an Gott. Und es war dir nie unangenehm an ihn zu glauben.“
„Das sagst du. Dein Gott hat für mich keine Antworten mehr auf meine Fragen gehabt. Und er hat auch noch keine Antworten für mich. Die wird er auch nie haben, da bin ich mir sicher.“
„Hättest du den Glauben behalten, dann wärst du jetzt kein Mörder.“
Mit diesen wenigen Worten wurde die Kirche dunkler, die Welt etwas kälter.
„Nein Vater, so stimmt es nicht. Ich bin das, was du aus mir gemacht hast. Jetzt musst Du damit leben, was ich tue.“
Er zögerte. „Du hast von mir nicht gelehrt bekommen, Menschen zu töten.“
„Sagtest du nicht, Gott wirkt in allem und jedem von uns? Ich habe von dir gelehrt bekommen, dass man alles Leben ehren soll. Diese Männer aber ehren kein Leben. Sie nehmen sich das, was ihre perversen Gelüste ihnen vorschreiben. Sie töten Tiere.“
„Nein, das kann und will ich nicht akzeptieren. Was für ein Vergleich? Du bringst Menschen um, Menschen“, er ballte die Fäuste vor Hesses Gesicht. Für seinen Vater eine Geste der äußersten Erregung.
„Ja, ich bringe Menschen um. Aber diese Menschen haben sich nicht als Menschen gezeigt. Du hast mich gelehrt, man solle alles Leben würdigen, Vater. Für diese Menschen stehen ihre sexuellen Gelüste an erster Stelle. Es törnt sie
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