Oliver Hell - Das zweite Kreuz
„Wenn sie geheiratet hat, brauchte sie doch ihre Unterlagen. Fragt nach, ob es beim Standesamt noch etwas gibt.“
„ Fest steht ja wohl, dass mit der Frau etwas nicht stimmte“, fasste Rosin zusammen.
„ Wenn wir bei Olbrichs weiter bohren, finden wir sicher auch noch eine Leiche im Keller. Doch ohne seine Frau haben wir schlechte Karten“, sagte Klauk, verzog sein Gesicht und kratzte sich am Oberarm.
Eine Stunde später stand Klauk mit einem Taschentuch bewaffnet in der Hand vor der Türe der Villa Lindemann und wartete auf einen Techniker der KTU. Über den weißen Rand des Taschentuches betrachtete er die Villa. Er sah erst jetzt, dass die Villa auch ihre besten Tage hinter sich hatte. Der Putz des Hauses bröckelte an einigen Stellen bereits ab. Im Garten war bestimmt schon seit Jahren kein Gärtner mehr gewesen. Büsche, die jedes Jahr einen Schnitt benötigten, waren ungepflegt und wilde Triebe ragten aus einem alten Kirschbaum, der an der Straße stand.
Nicht nur der Putz bröckelte. Das Gefühl für diesen Fall hatte sich verändert, als er schließlich mit dem Mann die Villa betrat. Bis gestern handelte es sich bei Rosalie Lindemann um ein Entführungsopfer. Bedauernswert. Jetzt ging man davon aus, dass es für jemanden einen guten Grund für eine Entführung gab, die nichts mit einer Erpressung zu tun hatte. Es ging hier nicht um Geld. Die Spezialisten für die Telefonfangschaltungen waren aus beiden Häusern abgezogen worden, nachdem auch Frau Olbrichs nicht mehr in ihrem Haus weilte. Die beiden Staatsanwälte hatten ihr OK gegeben.
„ Ich suche im Schlafzimmer“, hallte die Stimme der Tatortermittlerin Heike Böhm durch den Hausflur. Sie nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und verschwand nach oben in den ersten Stock.
„ Wohnzimmer“, brachte Klauk noch heraus, bevor ihn ein gewaltiger Nieser erschütterte. Er fluchte leise vor sich hin, dann ging er ins Esszimmer herüber. Nachdem die Gerätschaften für die Telefonüberwachung vom Esstisch verschwunden waren, hatte sich niemand um die Schränke aus gelaugter Eiche gekümmert. Klauk ging in die Hocke und fing an, die erste Schublade zu untersuchen.
*
Hell saß auf seinem Bürostuhl, dessen Lehne er ganz nach hinten gestellt hatte, und hatte seine Arme über dem Kopf verschränkt. Er betrachtete einen großen, schwarzen Vogel, der auf dem Dach des Hauses gegenüber über den First stolzierte.
Als Rosin die Türe aufriss und mit einem leicht panischen Unterton in der Stimme sagte: „Es passiert gerade wieder.“ In ihrer rechten Hand, an der sie einen Handschuh trug, hielt sie einen Brief. Hell brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um zu sehen, dass es sich dabei um einen erneuten Brief ihres Entführers handelte. Sofort hatte er das Telefon in der Hand und wählte die Nummer von Wrobel. Als er dem Chef der KTU berichtete, was erneut passiert war, flackerte sein Blick.
Wrobel hatte sich bereit erklärt, die notwendigen Untersuchungen diesmal selber zu übernehmen. Alle Techniker, die noch nicht mit Grippe auf der Nase lagen, waren beschäftigt, Heike Böhm draußen mit Klauk.
Es war nicht ungewöhnlich, dass er solche Aufgaben selber übernahm, doch war seine Aufgabe eigentlich eine andere.
Mit geschickten Fingern öffnete er den Brief. Mit einer Pinzette zog er die Dinge heraus, die sich wieder in dem Kuvert befanden.
„ Die Schreibmaschinenschrift auf dem Umschlag ist wieder genau an derselben Stelle platziert wie bei den Umschlägen zuvor. Es scheint, als hätte der Täter sie schon vorproduziert“, sagte er.
Doch weder Hell noch Rosin interessierte in dem Moment die Platzierung des Adressfeldes auf dem vergilbten Umschlag. Sie versuchten zu erkennen, um welchen Inhalt es sich diesmal handelte. Es war diesmal kein Foto, sondern es schien eine Fotokopie zu sein. Diese Fotokopie zeigte das wohl bekannteste Bild des Malers Leonardo da Vinci, ‚Das Abendmahl‘ . Einer der Jünger, die zusammen mit Jesus an der Tafel saßen, war penibel mit einem Bleistift eingekreist. Ebenfalls war wieder ein Zettel mit den schon üblichen Koordinaten in dem Kuvert.
Sie fuhren alle zusammen, als plötzlich eine Stimme von hinter ihnen sagte: „Das ist Judas. Der, der sich von Jesus scheinbar abwendet. Man erkennt ihn auch an dem Geldsäckchen in seiner Hand.“
Hell und Rosin fuhren herum. Vor ihnen stand Jan-Philipp Wendt.
„ Jan-Philipp, ich frage jetzt nicht, woher Du das weißt. Schön, dass du gesund wieder da bist. Wir
Weitere Kostenlose Bücher