Oliver Hell - Das zweite Kreuz
gedämpften Motivation. Die Erkältung steckte ihr noch mächtig in den Knochen. Sie hatte Mühe sich zu konzentrieren.
"Wer sich mit Profilen befasst, muss die Vorgehensmuster und die charakteristischen Eigenschaften des wahrscheinlichen Täters feststellen. Er geht von Fakten aus und setzt diese in seiner Analyse durch logische Überlegungen zueinander in Beziehung. Die Formel lautet: Was + Warum = Wer. Das sagt der pensionierte FBI-Agent und Serienkiller-Experte Robert K. Ressler.“
Der Dozent stand so stolz vor seinen Zuhörern, als käme der bekannte Satz von ihm selbst. Meinhold war dieser Dozent unsympathisch. Aber seine Vorlesung gehörte zum Lehrplan. Sie hatte es so gewollt. Also musste sie sich durch den Lehrplan kämpfen.
Robert K. Resslers Arbeit hatte sie schon lange Zeit verfolgt. Robert Ressler prägte in den siebziger Jahren die Begriffe Massen- und Serienmörder. Bis dahin gab es keine Unterscheidung. Die gab es aber sehr wohl. Ressler arbeitete die Unterschiede heraus. Massenmörder erschießen mehrere Menschen in einem Ereignis. Sie haben keine Ruhe-Periode.
Serienmörder ermorden drei oder mehrere Menschen in drei oder mehreren Ereignissen, an verschiedenen Orten und durchleben dazwischen Ruhe-Perioden. "Sie töten, warten, denken", beschreibt Ressler den inneren Vorgang. Ihr inneres Drehbuch entsteht nach den Fantasien; danach planen sie akribisch ihre Taten.
Das unterschied einen Serienkiller von einem Massenmörder.
Der nächste Satz, den der Dozent von sich gab, machte sie hellhörig. „Anzeichen werden oft übersehen und bloß als asoziales Verhalten eingestuft, wie etwa Tierquälereien.“
Tierquälerei. Sodomisten. Zylau. Hesse. Meinhold fuhr ein Schauer über den Rücken. In zwei Wochen würde der Prozess starten. Der Prozess gegen Hesse. Schon jetzt gab es erneut Aufruhr im Internet. Auch in der Presse kochte das Thema erneut hoch. Verbunden damit war auch wieder die Diskussion über die Änderung des Tierschutzgesetzes. Einigen gingen die Änderungen nicht weit genug. Anderen hingegen schien der Hype um das Thema übertrieben. Es ging doch schließlich nur um Tiere.
Nur um Tiere dachte Meinhold. Was für ein dämliches Geschwafel. Jedes Tier war ein Geschöpf Gottes. Nach den Geschehnissen im letzten Sommer war ihr das noch klarer geworden.
Hesse hatte aus diesem Glauben heraus die beiden Männer getötet. Er hatte Flottmann und Bündgen tätowiert. Damit hatte er sich ins Unrecht gesetzt. Das Gericht musste nun herausarbeiten, ob er sich der Tragweite seines Tuns klar war. Hesse litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, ausgelöst durch seine Einsätze in Afghanistan. Doch war er in der Lage, seine Taten zu planen und die Polizei ein ums andere Mal zu narren.
Auch sie würde bei dem Prozess aussagen müssen. Wie würde sie damit umgehen? Was würde der Prozess mit ihr machen? Sie konnte es sich nicht ausmalen.
Um sie herum wurde es laut. Die Vorlesung war vorüber. Sie hatte es nicht bemerkt.
„ Hallo Christina, wie geht es dir? Wir haben dich vermisst“, sagte ihr Kollege Ralf Fischer, der mit seiner Tasche über der Schulter neben ihr stehen blieb.
„ Beschissen wäre geprahlt. Aber ich kann ja nicht so viel Stoff verpassen“, sagte sie. Wobei sie mit dem zweiten Satz log. Alles, was sie heute gehört hatte, wusste sie auch schon vorher.
„ Trinken wir einen Kaffee zusammen?“, fragte Fischer.
„ Gerne. Falls es dir nichts ausmacht, wenn ich einen Tee bevorzuge?“
„ Nein, natürlich nicht“, antwortete er lachend.
„ Aber sollte ich dich anstecken, dann darfst Du mich nicht schlagen“, sagte sie, und hängte sich in den Arm, den ihr der Kollege hinhielt.
*
Hinter dem Gebäude des Bastei-Restaurants standen mehrere Mülltonnen. Wendt hielt sein Handy hoch, machte einen Schritt zur Seite. Sofort änderte sich die Anzeige. Kein Zweifel, der gesuchte Punkt war genau hier. Wendt verspürte keine Lust, die Mülltonnen zu kontrollieren. Schon verfluchte er sein Engagement. Hätte er es doch jemand anderen machen lassen. Er öffnete den Deckel der ersten Tonne mit dem gelben Deckel und schaute hinein. Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Er drückte den Deckel angewidert zu.
Was suchte er überhaupt? Wieder einen Beutel? Mit einem Foto als Inhalt? Nein, das Foto war schon im Brief. Die Koordinaten hatte er bereits. Daher war er hier. Was hatte der Entführer hinterlassen? Er trat einige Schritte zurück. Wenn es ihm schon zuwider war,
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