Oliver Hell - Das zweite Kreuz
angefallen. Und das alles nur wegen ein paar Stunden Spaß. Die Gedanken quälten ihn.
Wie um sich zu beweisen, dass er noch nicht sterben würde, bäumte er sich erneut auf, stemmte die Beine gegen die Wand und zog mit aller Kraft an den Handschellen. Er biss auf seinen Knebel, bis er das Gefühl hatte, wieder ohnmächtig zu werden. Es gab ein ekelhaftes Geräusch, einen entsetzlichen Schmerz in der Handwurzel, dann hatte er es geschafft. Seine linke Hand kam frei. Er verlor das Gleichgewicht, fiel wie eine Schildkröte auf den Rücken. Die Handschelle schepperte über den Boden. Mit einer einzigen, schnellen Bewegung riss er das Panzerband von seinem Gesicht, zog sich den Knebel aus dem Mund.
Tiefes Einatmen.
Ein Schrei.
Eine kleine Freiheit.
„ Rosalie, Heinz-Theo, seid ihr das wirklich?“, fragte er mit erstickter Stimme. Beinahe erschrak er über die Lautstärke, den Hall, den seine Worte auslösten in dem Kellerloch. Auch kam ihm seine eigene Stimme nach so langer Zeit vollkommen fremd vor. Rau und kratzig war sie. Unwillkürlich musste er sich räuspern.
Ein klagendes und forderndes Gemurmel aus den Ecken, wo die beiden anderen saßen, mahnte ihn zur Hilfe. Er rappelte sich auf, krabbelte erst zu Rosalie Lindemann herüber. Seine verletzte Hand schmerzte wie die Hölle. Dennoch verspürte er so etwas wie Euphorie, als er nach dem Gesicht von Rosalie tastete, um sie von dem Knebel zu befreien.
„ Mein Gott, Karsten, Du? Was ist nur mit uns geschehen?“, keuchte sie, „Wo sind wir hier?“
Er kniete neben ihr, den Knebel noch in der Hand. Mit einer energischen Bewegung warf er den Stofffetzen von sich. „Was geschehen ist? Das fragst Du ernsthaft? Jetzt hat uns einer am Arsch für das, was Du damals verbrochen hast!“ Seine Stimme klang noch gebrochen, doch seine Wut war deutlich zu hören.
„ Ich?“
„ Ja Du, Rosalie!“
»Du hast uns damals alle in diese elende Geschichte hineingezogen. Du hast uns erpresst, daher haben wir keine Wahl gehabt und mussten mitmachen!“
Sie starrte ihn an.
„ Wer ist das? Wer tut uns das an?“, zischte sie. Angst. Er hörte ihre Angst. Sie war greifbar.
„ Ich kann es dir nicht sagen. Aber vielleicht erfahren wir es noch, bevor wir hier alle verrecken.“ Den Satz murmelte er, als er sich schon zu Heinz-Theo Walters herübertastete.
Dabei verschwand er für kurze Zeit aus dem Blickfeld der Überwachungskamera. Der Drehstuhl, auf dem bis dahin ihr Beobachter saß, drehte sich noch einmal um die Achse, bis er mit der Lehne zum Monitor anhielt. Leise fiel eine Türe ins Schloss.
*
Hell bei Beisiegel. Keine Ergebnisse bei der Überprüfung der Konten der Opfer.
Bizarr traf es wohl auf den Punkt. Es war bizarr, was er jetzt sah. Leichen waren nicht immer schön anzusehen, aber das hier? Eine Mumie. Es wollte nicht in seinem Kopf, dass derjenige, der jetzt vor ihm lag, bereits über zwanzig Jahre tot war. Und eine Verbindung zwischen den sehnigen, von bräunlicher Haut überzogenen Muskeln und dem Namen Günther Adelberg bekam er überhaupt nicht hin. Noch vor ein paar Minuten war er mit etwas völlig anderem beschäftigt gewesen. Jetzt offenbarte sich ihm eine völlig neue Welt.
Draußen hatte sich wieder der Himmel bewölkt, das Wetter änderte sich im März so schnell wie im April. Gauernack hatte ebenfalls dunkle Wolken im Gepäck, als er unangemeldet in Hells Büro auftauchte. Hell war nach der Predigt froh, dass er aus seinem Büro herauskam. Gauernack hatte ihm mit seinen üblichen Klagen in den Ohren gelegen. Beschwörend hob er die Hände gegen die Decke. Es sei Wochenende und er hätte immer noch keine greifbaren Ergebnisse vorzuweisen und wie er denn jetzt in den Augen von Oberstaatsanwältin Hansen dastehe.
Hell konnte definitiv nichts präsentieren. Daher lud er den Staatsanwalt ein, ihn in die Gerichtsmedizin zu begleiten. Dort gäbe es vielleicht etwas Neues zu erfahren. Denn Dr. Beisiegel wäre dabei die Mumie zu öffnen, hatte er vorgeschlagen. Dabei aber auf eine Ablehnung gelauert. Und so kam es.
Mit einem angewiderten Gesicht wandte sich Gauernack ab. Hell war froh, ihn vergrault zu haben. Bis Montag erwarte er neue Ermittlungsergebnisse, hatte er noch bemerkt, bevor die Türe hinter ihm zufiel.
Hell hörte Dr. Beisiegel zu, konnte aber seinen Blick nicht von den bereits freigelegten Körperteilen der Mumie reißen. Eine Frage stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Würde die Doktorin diesem Menschen, der
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