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Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)

Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)

Titel: Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jowi Schmitz
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den Stuhl hoch und ließ ihn wieder hinunter. Zissssch . Ich trat auf die Pumpe, bis der Stuhl ganz oben war, setzte mich wieder hin und ließ ihn sinken. Zissssch .
    Das machte ich eine lange Zeit, doch mein Vater kam nicht zurück. Nichts war, wie es sein sollte. Ich hatte Hunger, aber es war nichts zu essen da. Ich war müde, aber es war noch nicht mal sieben Uhr.
    Schließlich ging ich allein zum Boot.
    Ich knipste alle Lampen an. Wir hatten nur zwei: die Glühbirne an der Decke und die Leselampe meines Vaters. Als ich nach dem Kabel griff, um die Leselampe anzuschalten, bekam ich einen Stromschlag. Ich schrie.
    Und ich weiß nicht, ob es daran lag, aber ich schrie immer weiter.
    Immer lauter und immer höher, es hörte gar nicht mehr auf, als wäre das gar nicht ich selbst, die da schrie, sondern jemand anders mit meiner Stimme, der lauter schrie, als ich es je getan hätte.
    Mein Vater war so rasend schnell da, dass das Boot wild hin und her schwankte, als er hereinkam. Mit einem Satz war er bei mir, hielt mich fest und rief: »Was ist denn, was ist denn? Krumpie, Schätzchen, sag doch was.« Mein Vater, Papa. Meiner.
    Mit seinen lieben Augen und seinem dicken Bauch. Als würde ich ihn von oben betrachten. Und mich sah ich auch von oben: Olivia Marenburg, jetzt schon Brüste, elf Jahre alt, aber noch gar nicht so groß.
    »Was hast du denn?« Er musterte den Finger, der den Schlag abbekommen hatte. Ich hatte ihn in den Mund gesteckt.
    »Ich will Mama.« Noch während ich das aussprach, spürte ich, wie sehr es stimmte. Ich wollte meine Mutter. Sie brauchte nichts zu tun, nichts zu sagen. Sie durfte sogar so krank und so müde sein, wie sie zum Schluss gewesen war. Wenn sie nur da wäre.
    Aber das ging nicht.
    Es gab sie einfach nicht mehr.
    Das durfte nicht sein.
    In mir drin war sie noch völlig lebendig. Aber das konnte ich meinem Vater nicht erklären. Er war lieb. Doch er war nicht genug. Und außerdem hatte er jetzt jemanden, der ihn tröstete.
    »Ich will Mama.«
    Er sagte: »Ich will deine Mutter auch, Krumpie.« Er fing an zu schniefen, doch bevor er richtig losheulen konnte, schrie ich, immer lauter: »Nein! Jetzt bin ich dran! Ich darf auch mal weinen! Ich bin dran! Ich bin dran! Ich bin dran!«
    Mein Vater sah aus, als wollte er protestieren, doch schließlich hielt er den Mund und nahm mich in seine Bärenarme. Endlich.
    »Ich hab dich lieb, Krumpie«, sagte er. »Du bist lieb und tapfer und stark. Und ich bin so froh, dass es dich gibt.« Und er strich mir über die Wange und flüsterte noch viel mehr Sätze, die mir so sehr sehr sehr gefehlt hatten. Und ich sah meine Mutter, die mich anlächelte, und kapierte auf einmal, was das Lächeln bedeutete: Heul du nur. Alles darf sein.
    Dann kam das Meer. Erst wurden meine Augen nass, aber es waren noch keine Schluchzer da, dann begann es in meinem Kopf zu prickeln. Ich legte die Finger an die Schläfen, weil es sich anfühlte, als wäre mein Kopf größer geworden. Die ganze Zeit über sagte mein Vater immer wieder: »Krumpie.« Ich schluchzte, und mein ganzes Leben wurde hin und her geschleudert von dem vielen Kummer, der sich einen Weg nach außen bahnte. Das ganze Meer auf einmal. Wenn mein Vater mich nicht festgehalten hätte, wäre ich ertrunken.
     
    Später, als es dunkel war und ich endlich aufgehört hatte zu weinen, fragte ich ihn, ob er bei Sonja gewesen war, als er mich schreien gehört hatte.
    Er nickte und sagte, Sonja hätte ihm gerade eine Tasse Tee eingeschenkt, die ihm glatt aus der Hand gefallen sei. Er sagte auch, dass er ab jetzt besser für mich sorgen würde. Dass es höchste Zeit sei. Als ich ihn fragte, ob er nicht wieder zu Sonja wolle, sagte er: »Du bist mir doch viel wichtiger, Krump. Sonja ist nur eine Freundin. Sie hilft mir, weiter nichts.«
    Das war das Schöne an der Vorläufigkeit, dachte ich: Manches war eben »weiter nichts«.

 
    17
     
    Mitten in der Woche musste ich nachsitzen. Jenny holte ihren Stuhl hinter dem Pult hervor und setzte sich dicht neben mich. Sie seufzte übertrieben. »Ich glaube, du hast schon ewig nichts mehr für die Schule getan, Olivia.«
    Ich schüttelte den Kopf. Leugnen hatte keinen Sinn. Sascha hatte mir bei Mathe ein bisschen geholfen, aber mehr auch nicht.
    »Das kann ich verstehen.« Jenny roch nach Brot mit Honig. Sie benahm sich ganz lieb und weich, ohne ihr übliches lehrerhaftes Getue. In meinem Kopf, bei der Schläfe, dröhnte es auf einmal. Nicht schon wieder Tränen! Anscheinend

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