Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)
fiel einem das Weinen leichter, wenn man erst mal damit angefangen hatte. Mein Kopf war wie ein bis zum Rand gefülltes Wasserbecken.
»Ich glaube, wir sollten es allmählich der Klasse erzählen. Das mit deiner Mutter.«
Jetzt bekam ich Ohrensausen. Wahrscheinlich würde sie mir gleich noch die Hand aufs Bein legen. Ich rutschte ein Stück von ihr weg.
»Dann wissen die anderen auch, warum du manchmal so …«, fuhr Jenny fort, »so still bist.«
»Aber die ärgern mich doch gar nicht mehr«, rutschte es mir heraus, bevor ich mir überlegen konnte, ob ich das Jenny überhaupt anvertrauen wollte.
»Milena hat damit aufgehört, das stimmt, aber trotzdem hast du nicht richtig Anschluss gefunden.«
Ich sah Jenny nicht an. Anschluss. Den wollte ich gar nicht finden.
Ich hatte Sascha.
Aber das würde ich Jenny natürlich nicht auf die Nase binden.
Sie ließ nicht locker. »Komm schon, ich möchte dir gern helfen.«
Ich sagte immer noch nichts.
»Es ist bestimmt eine Erleichterung für dich, und dann kannst du es auch besser verarbeiten.«
Verarbeiten? Was sollte das denn heißen? Natürlich kannte ich das Wort, aber was bedeutete es wirklich? Wie sollte man eine tote Mutter »verarbeiten«? Was sollte man tun, wenn jemand starb, der nicht sterben durfte?
Milch konnte man zu Käse verarbeiten, Gurken und Feta zu Salat.
Aber eine tote Mutter? Plötzlich hätte ich Jenny am liebsten ganz fest ans Schienbein getreten. Richtig fest.
»Okay, Olivia, was machen wir also …?«
»Nein.«
»Was soll das heißen?«
»Nein, ich will nichts erzählen. Es geht niemanden was an.«
Ich stand auf und ging zur Tür. Und fügte noch sehr direkt etwas hinzu: »Es geht niemanden was an … Jenny.«
Zufrieden ging ich nach Hause.
Mein Vater war schon mit der Arbeit fertig, als ich zum Boot kam. »Ich habe so früh wie möglich zugemacht. Ich wollte mehr Tochterzeit.«
»Und was ist mit dem Geld?«
Er zuckte die Schultern. »Es gibt eine Zeit für Geld und allzeit Zeit für Olivia.«
Wir setzten uns neben die Plastikplane. Mein Vater hatte Milch für uns beide mitgenommen. Unter der Plane dampfte es immer noch ein bisschen.
Ich hatte Turnschuhe und Socken ausgezogen und versuchte, den großen Zeh unters Plastik zu schieben, doch mein Vater packte meinen Fuß und tat, als wollte er mich beißen. »Früher musstest du immer wahnsinnig lachen, wenn ich das gemacht habe.«
»Da muss ich ungefähr ein Jahr alt gewesen sein.«
»Na und?« Er zwinkerte mir zu. »So lange ist das doch noch nicht her.«
Da war das Lächeln meiner Mutter wieder.
Ohne nachzudenken, fragte ich: »Kannst du dich noch an Mamas Lächeln erinnern?«
Mein Vater sah mich erst einen Moment überrascht an, dann strahlte er.
»Natürlich. Ich denke ständig daran. Wie gut, dass du davon sprichst. Ich habe nämlich was Besonderes für dich, das mit ihrem Lächeln zu tun hat. Aber das kommt später. Erst mal dieses Geschenk.«
Er deutete mit dem Kopf in Richtung Plane. »Ich habe ja wirklich eine Menge Überraschungen für dich, Olli. Was bin ich nur für ein toller, erwachsener Vater.«
Er stupste mich an. Jetzt sollte ich ihm wohl bestätigen, dass er wirklich ein ganz toller Vater war mit seinen Überraschungen.
Ich rutschte ein Stück zur Seite und stieß meine Milch um.
Mein Vater bemerkte es gar nicht.
Ich bohrte den großen Zeh dort in die Erde, wo die Milch versickerte. Wenn sie tief genug versank, würde sie am anderen Ende der Welt im Ozean wieder herauskommen. Früher hatte ich mir das bildlich vorstellen können. Saß da ein Fischer in seinem kleinen Boot, tauchte plötzlich ein Milchwölkchen vor seiner Nase auf. Jetzt glaubte ich nicht mehr daran.
»Augen zu, Olivia, jetzt kommt’s.«
Brav machte ich die Augen zu. Mein Vater raschelte mit dem Plastik.
Die Glocke an der Tür des Friseursalons klingelte.
Das Rascheln hörte auf.
Es klingelte noch mal.
Wer das wohl war? Nicht Musa, der klopfte immer. Außerdem hing das Schild »Geschlossen« an der Tür. Die meisten Leute begriffen, was das hieß.
Vielleicht hatte es ja was mit meiner Überraschung zu tun? Ich öffnete die Augen, sprang auf und rannte barfuß in den Laden. Ein großes schwarzes Auto stand vor der Tür. Ein Bestattungsauto. Daneben stand Simon in seinem schwarzen Anzug. Er schaute furchtbar ängstlich drein. Als er uns sah, ging er zurück zum Auto und nahm etwas von der Rückbank.
Ich machte die Tür auf.
»Danke, Simon«, sagte ich und nahm ihm die Urne
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